| | W. Popken im Fenster Selbstportrait 08/2004 | | | | Kreativität Von › Gerd Hebrang
Der Begriff „Kreativität“ ist erst vor etwa 50 Jahren im Lexikon aufgetaucht, wie der Physiker und Nobelpreisträger » Gerd Binnig in seinem Buch » Aus dem Nichts. Ãœber die Kreativität von Natur und Mensch erstaunt feststellt. Heutzutage wird Kreativität als Wirtschaftsgut gehandelt:
| Seit Ende der 90er Jahre wird auch der Begriff Kultur- oder Kreativwirtschaft verwandt, um alle Aktivitäten zur Herstellung und zum Vertrieb von urheberrechtlich geschützten Produkten zu beschreiben, die dem Ziel dienen, Geld zu verdienen. Heute gibt es in Europa eine Vielzahl von Ansätzen, wie man Kreativität als Wirtschaftstätigkeit verstehen und interpretieren kann. Das Kulturministerium Großbritanniens spricht von Creative Industries und hat dazu verschiedene Studien veröffentlicht.
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Natürlich spielt die Kreativität auch in der Erziehung eine Rolle. Schon Babys sollen angeblich hinsichtlich der Kreativitätsentwicklung gefördert werden können, indem man sie ins Wasser wirft, was das sogenannte Babyschwimmen ins Leben gerufen hat. Kindergarten und Schule sollen selbstverständlich die Kreativität fördern, und so dürfen uns nicht wundern, dass auch die Voltigierer- und Reitpädagogen sich um die Kreativität kümmern müssen.
Die Abteilung „Kreativität“ in der › Handorfer Spielekartei ist zwar vergleichsweise dünn, aber man bemüht sich. Wie wird man kreativ? Das ist inzwischen eine so dringende Frage, dass sich eine ganze Industrie entwickelt hat, die angeblich in der Lage ist, die Kreativität zu fördern. Aber was ist Kreativität?
| Die kürzeste, aber implikationsreiche Definition der Kreativität lautet: "Neukombination von Informationen" (Holm-Hadulla 2011). Kreativität im weitesten Sinn beruht auf der Fähigkeit, die Lücke zwischen nicht sinnvoll miteinander verbundenen oder logisch aufeinander bezogenen Gegebenheiten durch Schaffung von Sinnbezügen (freier Assoziation) mit bereits Bekanntem und spielerischer Theoriebildung (Phantasie) auszufüllen. Das Spiel – auch als Gedankenspiel – gehört als wesentliches Element zur Kreativität.
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Ja, so stellen sich die Nichtkreativen die Kreativität vor. Einfach genügend viel Input, fünfmal umrühren, dreimal schütteln, heraus kommt etwas Neues. Im Prinzip kann der Physiker Binnig auch nicht viel mehr dazu sagen; die Erfindung des » Rastertunnelmikroskops ist seine Referenz, und er stellt fest, dass alle Einzelheiten im Prinzip schon lange bekannt waren, nur die Kombination war neu, und das hält er für kreativ. Daraus leitet er seine allgemeine Definition ab:
| Kreativität ist das Ermöglichen neuer Wirkungseinheiten.
a.a.O., Seite 27 | | |
In diesem Sinne kommt er zu dem Schluss, dass auch die unbelebte Natur kreativ ist, und im Interview weist er darauf hin, dass Intelligenz nicht unbedingt mit Kreativität korreliert sein muss: » Definition von Kreativität. Was heute mit Kreativität umschrieben werden soll, gab es natürlich schon immer. Das 18. und 19. Jahrhundert fasste das Phänomen unter dem Geniebegriff zusammen, der dann zunehmend diskreditiert wurde. Mit Genie wurde allerdings in erster Linie der Künstler gemeint, nicht so sehr der Naturwissenschaftler oder gar der Normalmensch. Kreativität hatte etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes, Mystisches.
| Beim Menschen kommt der weniger begrifflich-isolierenden und logisch-kausalen, dafür aber nonverbal, assoziativ und ganzheitlich denkenden (in der Regel rechten) Hirnhälfte eine besondere Bedeutung zu. Beteiligt sind aber letztlich beide Hirnhälften. Da die kreativen Denkprozesse weitgehend unbewusst ablaufen, werden kreative Einfälle oft als Eingebung einer überpersönlichen Intelligenz oder Wesenheit (Inspiration, Musenkuss usw.) oder als ein mystisches Geführtwerden erlebt.
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Ende des 19. Jahrhunderts sind die ersten psychologischen Gesellschaften gegründet worden. Selbstverständlich wollte man gerne wissen, was im Gehirn so vor sich geht. Insbesondere, wenn das Gehirn etwas Bedeutsames leistet. Und die Pariser Psychologen dachten sich, dass ein Mathematiker vielleicht am ehesten darüber etwas sagen könnte.
Deshalb luden sie einen der berühmtesten Mathematiker der damaligen Zeit, der zufälligerweise auch in Paris lebte, » Henri Poincaré, zu einem Vortrag ein. Dieser sprach über die Entdeckung eines der wichtigsten mathematischen Sätze, an die er sich genau erinnern konnte. Er war gerade von einem Urlaub am Atlantik nach Paris zurückgekehrt und setzte, den Koffer in der Hand, im Gespräch mit einem Begleiter, den Fuß auf den Einstieg der Straßenbahn, da fiel ihm die Lösung zu dem Problem ein, mit dem er sich vor dem Urlaub lange beschäftigt hatte. Zu Hause stellte er den Koffer ab, machte sich ein paar Notizen und wandte sich anderen Aufgaben zu. Am nächsten Tag arbeitete er seine Notizen aus und versuchte, einen Beweis für seine Einsicht zu finden, was ihm dann auch gelang.
Mit anderen Worten: Die Einsicht überkam ihn wie ein Blitz. Er konnte den Psychologen nicht sagen, wie es geht. Insbesondere hatte das Ganze auch nichts mit Mystik zu tun. Allerdings kommt so etwas durchaus vor:
| Im kreativen Schaffensprozess tritt oft ein besonderer Bewusstseinszustand - eine Trance - auf, der als Floating (Fließen) bezeichnet wird und meist mit einem vorübergehenden Verlust des Zeitbewusstseins einhergeht. Dieser Zustand ist zugleich konzentriert und dissoziativ. Kreative Denkprozesse können auch im Schlaf ablaufen.
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Das wiederum hat vermutlich mit der Zweiteilung unseres Gehirns zu tun, einer Hypothese, von der die Wissenschaftler anscheinend abgekommen sind. Die rechte Gehirnhälfte hat nämlich in diesem Sinne kein Zeitbewusstsein. Dieser Zustand, vollkommen versunken zu sein und die Zeit zu vergessen, ist den meisten noch zumindest aus ihrer Kindheit bekannt. Dort stellt sich dieser Zustand automatisch ein, wenn man sich auf ein Spiel einlässt und Zeit und Raum vergisst.
| Die kreative Sinnproduktion ist besonders in jungen Jahren ausgeprägt und wird später zunehmend durch wissensbezogene, logische Sinnproduktion ersetzt. Sie kann durch Übung bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Andererseits kann diese Fähigkeit auch durch eine einseitig auf verbalisierbares Wissen orientierte Erziehung und Bildung überlagert werden.
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Das ist wohl wahr. Die Unschuld der Jugend geht nicht zuletzt durch die Schule verloren. Und die Frage ist, was man daran tun kann. Können Voltigieren- und Reitpädagogen daran etwas ändern?
| Vielen Schulsystemen wird vorgeworfen mit einer zu starken Orientierung auf Wissenserwerb und Begrifflichkeit viel zur frühzeitigen Verkümmerung von Kreativität beizutragen. Die Lerntheorien des Konstruktivismus kombinieren deshalb den klassischen Wissenserwerb mit freien Unterrichtsmethoden, damit der Lernende seine Umwelt als ein Feld von Hürden, die er mit Hilfe kreativer Lösungsansätze überwinden kann, erlebt. Der kreative Denkprozess kann durch spezielle Kreativitätstechniken gefördert und beschleunigt werden.
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Na wunderbar. Dann haben wir ja das Problem gelöst. Wir werden jetzt alle kreativer, weil man weiß, wie man uns das beibringen kann. Spezielle Kreativitätstechniken. Hört sich wirklich gut an. Ich frage mich nur, ob die Leute, die so etwas entwickeln, überhaupt wissen, was Kreativität ist. Ob nicht der Begriff Kreativität genauso zerredet wird wie der Begriff Genie, so dass am Ende niemand mehr weiß, was damit eigentlich gemeint ist.
| Kreativität ist laut Joy Paul Guilford und seinen Kollegen jede neue, noch nicht da gewesene, von wenigen Menschen gedachte und effektive Methode, ein Problem zu lösen beziehungsweise die Miteinbeziehung von Faktoren wie Problemsensitivität, Ideenflüssigkeit, Flexibilität und Originalität. Demzufolge wäre Kreativität die zeitnahe Lösung (Flexibilität) für ein Problem mit ungewöhnlichen, vorher nicht gedachten Mitteln (Originalität) und mehreren Möglichkeiten der Problemlösung (Ideenflüssigkeit), die für das Individuum vor der Problemlösung in irgendeiner Weise nicht denkbar ist (Problemsensitivität).
Bei der Definition von Kreativität spielen folgende Faktoren eine entscheidende Rolle:
- die individuellen Möglichkeiten einer einzelnen Person
- die Möglichkeiten der Kreativität und deren Entstehung im sozialen Kontext und deren mögliche Bewertungen
- die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsformen und deren Bewertungsformen der Kreativität im Einzelnen
„Alltägliche Kreativität“ kann geweckt oder erlernt werden (Knieß 2006). Neben Begabungsprofilen hat Holm-Hadulla (2010) das intrinsische Interesse, Neugier und Selbstwertsteigerung als wichtige Motivationsfaktoren beschrieben. Kreativität im eigentlichen Sinn setzt Anlagen voraus: Intuitive Begabung und Widerstandsfähigkeit.
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Na was denn nun, ist jeder nun kreativ oder kann es zumindest sein, oder bedarf es einer bestimmten Begabung? Hier wird jetzt von Kreativität im eigentlichen Sinn geredet. Ach ja? Was ist das? Was ist Kreativität im uneigentlichen Sinn? Ich fürchte, die Sache ist noch lange nicht geklärt.
Aus der Erfahrung des Physikers Binnig - und das ist die einzige Grundlage, auf der er (und jeder andere auch) überhaupt sprechen kann - geht hervor, dass man nicht nur den Entschluss fassen muss, kreativ sein, das heißt für ihn: ungelöste Probleme anpacken zu wollen, sondern auch die nötige Zeit und Unterstützung zu haben. Er arbeitet heraus, dass unter Umständen viele Umwege nötig sind, zeit- und kostenintensive Umwege, und nun frage ich Sie: Ist unsere Gesellschaft für solche Anforderungen empfänglich?
Gibt es irgendwo in unserer Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Industrie, in der Schule, diesen Freiraum, in dem sich Kreativität entwickeln und entfalten kann? Sind angesichts all der Zwänge zur Effektivität, zur Kosteneinsparung, zur Produktivitätssteigerung, zur Termineinhaltung die Mittel vorhanden, deren die Pflege der Kreativität bedarf?
Gerade die Anstrengungen schon vor dem Kindergarten, im Kindergarten, in der Schule und im ganzen Berufsleben sind für die Kreativität überhaupt nicht förderlich. Man muss loslassen können. Man muss sich frei und geborgen fühlen können, damit etwas Neues entstehen kann. Wenn man Aufgaben in einer Gruppe im Wettbewerb bewältigen muss, hat das mit eigentlicher Kreativität vermutlich nicht allzu viel zu tun.
Erfreulicherweise bieten die Karten der Handorfer Spielekartei Übungen, die wirklich Spaß machen können und keinen Druck aufbauen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel:
| 01 Kreativität
Parcours bauen Materialien: Stangen, Kegel ...
Die Kinder haben die Aufgabe, mit verschiedensten Materialien einen Weg für das Pferd zu bauen, zum Beispieltore aus Kegeln, Stangen zum darüber Treten, Slalom ... Nachdem Bauen darf jedes Kind den Weg durchreiten.
- Die Kinder werden in zwei Gruppen geteilt. Jede Gruppe plant für die andere eine Strecke.
a.a.O. | | |
Aber hat das was mit Kreativität zu tun? Vielleicht. Vielleicht werden durch solche Übungen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass jemand kreativ werden kann. Wir wissen einfach noch viel zu wenig darüber.
Entspanntes, freudespendendes Spiel kann nie verkehrt sein. Und selbst wenn Sie verbissen trainieren, denken Sie daran: Ab und zu mal sollte man auch entspannen, Freude und Behaglichkeit empfinden. Nicht nur Sie brauchen das, es ist auch für Ihr Pferd wichtig.
Als letztes gebe ich Ihnen eine Frage mit auf den Weg: Kann unser Zusammensein mit dem Pferd, wie immer es aussieht, kreativ sein? Oder könnte es sein, dass man sich auf dem Pferd so entspannen kann, dass die Kreativität des Reiters dadurch gefördert wird?
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