Leserbrief › 1465 zu Ausgabe › 160 Kommentar zu Seite www.pferdezeitung.com/Berichte/160/Gesamttext 2005-07-04 16:39:00
Schöner Artikel ... "weil" und "aber"
Hallo, schöner Artikel über Pferde, Live-Rollenspiel, Reenactment. Interessant, weil aufgezeigt wird, wie der Autor sich ans Thema heran arbeitet. Vom Zufallsfund des Sattels über die SCA, die übrigens in Europa und Deutschland ganz gut organisiert ist, über Mittelaltergruppen und LARP. Aber ... er zeigt somit auch, wo der Schreiber interessante (und wichtige?) Weichen verpasst oder übersehen hat. Dabei möchte ich den leicht ironische Seitenhieb auf die Realitätsflucht von Rollenspielern übersehen verknüpft mit der Bemerkung, dass das moderne Leben der westlichen Wohlstandsgesellschaft zu solchen Auswüchsen führt, weil man sonst nichts mehr zu erleben hat. Man könnte engegnen, dass die moderne Wohlstandsgesellschaft erst das Reiten als Breitensport und Hobby möglich macht und somit der Pferdezeitung ihre Daseinsberechtigung gibt. In Zeiten als Pferde noch Gebrauchsobjekte darstellten, wäre diese Seite mit Kunstgalerie, Rasseportraits, Bildschirmschoner, CArtoons und Puzzles nie möglich gewesen. Egal :)
Was meiner Meinung nach im Artikel fehlt ist eine etwas differenziertere Sichtweise. Eventuell fehlte einfach der richtige Suchbegriff bei Google. Dem Autoren wäre klar geworden, dass es neben den grobmittelalterlichen(*) Hobbyrittern in Pannesamt noch andere Fraktionen gibt. Und die Arbeiten dort sind auch für Leser der Pferdezeitung interessant. Es wird weniger mit Klischee und Ambiente gearbeitet, sondern historisch korrekt rekonstruiert und experimentiert. Man hätte Markus Junkelmann und seine römische Pferde erwähnen können, die hervorragenden Darstellungen von den Timetrotter (» www.timetrotter.de), die Rekonstruktionen der Funde aus den sächsischen Pferdegräbern (auch Sättel). Es gibt eine Reiterin, die Reitausrüstung aus den baltischen Gebieten rekonstruiert. Sehr gute und interessante Erkenntnisse. Und dann gibt es da noch die immer weiter wachsende Fraktion der Bogenschützen zu Pferd. Hier trifft Reitkunst die Geschichte und entwickelt sich zu einem neuen Pferdesport. Bei der Gelegenheit hätte auch eine kurze Bemerkung über die Größe mittelalterliche Pferderassen kommen können, um das Klischee vom "Ritter hoch zu Roß" auf "Ritter hoch zu Pony" zu relativieren. Bei Reenactments der Napoleonik sind immer etliche Reiter anwesend, deren Pferde teilweise polizeitaugliche Ausbildungen haben (Kanonen können laut sein). Auf Civil War Reenactments in den USA erscheinen teilwese mehrere hundert Reiter. Reiter schwärmen davon, wenn sie es mit 15 Mitstreitern geschafft haben, den Reitplatz in einer Linie im Galopp zu überqueren - ohne das die Linie auseinander riss.
Und wieso so wenige Reiter im Mittelalter? Neben den oben genannten Gründen wie Zeit, Geld, Ausbildung gibt es noch eine weitere wichtige Antwort: Weil die wenigsten Ritter darstellen! Hier könnte man auf die Entwicklung des Pferdes als Waffe eingehen. Bis zum frühen 11. Jhd gab es die Ritter in unserem Verständnis nicht. Man ritt vielleicht zur Schlacht, stieg dann ab und kämpfte zu Fuß. Viele Frühmittelaltergruppen haben hier ihre Aktivitäten und können getrost auf Pferde verzichten. Hätte sich eh nur einer im Dorf leisten können. Im feudalen Hochmittelalter gab es natürlich Ritter, die auch ritten, aber selbst die hatten immer genügend Fußvolk dabei. (Kriegs)knechte, Bogenschützen, Diener. Viele ohne Pferd. Dann hat die Mittelalterszene sehr viele Darsteller im Spätmittelalter. Sehr viele Gruppen, die das städtische Leben darstellen. Alles ohne Pferde - historisch korrekt. Und dann kam historisch auch schon die Zeit, in der die Reiterei weniger zu sagen hatte, weil die Schweizer zeigten, wie Infanterietaktiken die Kavallerie zu Fall bringen. Ist hier der Autor auf der Suche nach Aufklärung in die eigene Klischee-Falle getreten und hat Pferde gesucht, wo sie nicht hingehören?
Neben allen historisch-logischen Gründen gibt es noch einen weiteren wichtigen Grund. Die Nicht-Reiter. In modernen Zeiten, in denen der normale Stadtmensch keinen Umgang mit Pferden kennt, ist die Einbringung eines Pferdes ins Geschehen ein Risiko für sich. Glasscherben auf dem Veranstaltungsplatz, fütterungswütige Familien, die von der Bratwurst bis zur Giftpflanze alles ins Tier stopfen wollen, Pferdehasser und Menschen mit Pferdephobie, die das Tier wäherend der Veranstaltung mit Lanze, Schwert oder Bajonett malträtieren (bis zur glatten Stichwunde schon alles passiert), Parkplätze neben der Weide, wo Idioten am Abend nochmal "freundlich" den Pferden zuhupen. Wer sein Pferd liebt, lässt es zu Hause und freut sich, dass die Fütterungswarnhinweisschilder am Weidezaun vom Nicht-Reiter wahrgenommen und beachtet werden.
Blickt man dagegen auf die "Ambientemärkte", die Bilderbuchklischees vom Mittelalter verkaufen, kann man dem Artikel zustimmen: hier fehlen Reiter! Aber wer interessiert sich schon für Klischees, wenn die Wahrheit viel spannender ist?
Das alles wären interessante Aspekte gewesen, die sicher vielen "Normalreitern" interessiert hätten - so ist zumindest meine Erfahrung als Reiter, Reenacter und Rollenspieler, der versucht alles zu verknüpfen.
Zum Gedankenaustausch stehe ich gerne bereit.
Lieben Gruß Peter
panik@t-online.deHallo Peter, vielen Dank für den Kommentar! Anscheinend sind Sie in der Materie drin - ich nicht. Ich hatte damals eine 55-Stundenwoche und habe die Pferdezeitung nach Feierabend und am Wochenende weitergeführt. Meine damaligen Recherchen (April 2002) haben keinerlei Hinweise auf die von Ihnen erwähnten Quellen ergeben. Soweit ich mich erinnere, hat sich anschließend jemand aus dem Raum Baden-Württemberg gemeldet, der irgendwie mit der Szene verbandelt war, aber auch nichts mit Pferden zu tun hatte. Aus dem Kontakt hat sich aber leider nichts ergeben (siehe den anderen Kommentar). Sollten Sie oder das Team von Timetrotter interessiert sein, über Ihre Arbeit zu berichten, lesen Sie bitte unter › › › pferdezeitung.com/Autorenhinweise› nach, wie ich mir das vorstelle. Suchen Sie bitte über die Suchbox nach dem Stichwort "Kassai", um Beiträge zum Thema Bogenschießen zu finden. Einen öffentlichen Gedankenaustausch zu initiieren gestaltet sich zunehmend schwieriger. Einen Versuch, mit Hilfe der Wiki-Technik die Leser zu verleiten, ihre Kenntnisse allgemein zur Verfügung zu stellen, habe ich mangels Beteiligung eingestellt. Inzwischen sind die Angebote zum Thema Pferd in der Wikipedia recht beachtlich. Ein kurzer Versuch zeigt, daß die Wikipedia zum Thema LARP noch nichts anzubieten hat. Das wäre ein weiteres Betätigungsfeld für Sie und Ihre Freunde. Immerhin gibt es einen Beitrag zum Thema » de.wikipedia.org/wiki/Reenactment, der aber noch sehr dürftig ist. Das Forum der Pferdezeitung funktioniert ebenfalls nicht. Die bestehenden Foren für Pferdefreunde im Internet reichen anscheinend aus. Vermutlich ist die Pferdezeitung vom Konzept her nicht für einen Gedankenaustausch in dieser Richtung geeignet. Vielmehr handelt es sich um eine Plattform, die der herkömmlichen Printpublikation entspricht, d. h. jemand spricht sich öffentlich aus, erwartet aber nicht unbedingt einen Dialog. Dieser kann sich zwar über Leserbriefe oder Kommentare zu den Seiten ergeben, aber auch in diesen Fällen handelt es sich weniger um einen Gedankenaustausch als vielmehr um Statements, die unter Umständen unkommentiert für sich wirken - wie in diesem Falle. Insofern könnten Sie und Ihre Freunde die Chance ergreifen und Ihr Anliegen einem größeren Publikum präsentieren. Es hängt von Ihnen ab - wer sonst sollte es tun? Mit freundlichen Grüßen Gerd Hebrang
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