| | W. Popken im Fenster Selbstportrait 08/2004 | | | | Meine Meinung zu dem Buch: von › Gerd Hebrang
Das Buch beginnt mit einer Danksagung an einen deutschen Pferdezüchter. Diesem verdankt die Autorin eine bemerkenswerte Einsicht. Als Tierärztin hatte sie zwölf Jahre lang Pferde mit Rückenproblemen behandelt, bis
| [...] ich wirklich begriff, wie wichtig der Schwung ist. [...] Dieses Buch ist entstanden, weil es in Deutschland jemanden gab, der darauf bestand, daß seine Pferde nie ihren Schwung verloren! (Seite 7) | | |
Leider erklärt die Autorin nicht, wie der Züchter ihr zu dieser Einsicht verholfen hat. Seine Pferde haben auch Probleme ("die üblichen"), aber niemals Rückenprobleme. Nun wundert man sich natürlich, besonders weil die Autorin betont, daß dieser Mann nicht etwa nur Glück hat oder Rückenprobleme nicht erkennen würde oder nichts davon verstünde.
| Er ist einfach ein Pferdemann, der ein ungeheures Verantwortungsgefühl gegenüber den Bewegungen des Pferdes hat, ihnen ihren natürlichen Rhythmus und Bewegungsablauf läßt, ungeachtet der Trainingsstufe und der Art von Arbeit. | | |
Worauf bezieht sich dieser Satz? Wenn ich an deutsche Züchter denke, sehe ich die vergitterten Boxen vor mir. Boxenhaltung verhindert den natürlichen Rhythmus und Bewegungsablauf. Hier müßte man also ansetzen.
Auf Seite 106 finde ich ein Foto zur Illustration im Kapitel "Diagnose und Therapie", Abschnitt "Alternative Therapiemethoden", das ein Pferd in einem offenen Unterstand zeigt, dick eingedeckt, einsam und alleine, mit der Bildunterschrift:
| Gut für den Pferderücken: freie Bewegungsmöglichkeit, auch im Winter - z. B. in einer Offenstallhaltung. | | |
So so. Das ist also nicht das Anliegen der Autorin. Sie weiß, daß die Pferde bei uns und vermutlich auch in England, wo das Buch zuerst erschienen ist, eingesperrt werden, was für das Lauftier Pferd mit Sicherheit suboptimal ist, und daß es dazu vermutlich noch nicht einmal eine Alternative gibt.
Was ist es also, das der Züchter aus Deutschland allen anderen voraus hat?
| Er macht reiterlichen Fehlern gegenüber ebenso wenig Zugeständnisse wie beim Grad der Versammlung. Kurze, tastende Schritte sind nicht nur inakzeptabel, sie sind unentschuldbar. Das Pferd muß seinen Reiter mit weichem, durchlässigem Rücken und frei und locker schwingenden Beinen willig vorwärts tragen. Ob es 20 Minuten oder zwei Stunden dauert - das Pferd kehrt nicht eher in den Stall zurück, bevor nicht sein Rücken mit Schwung arbeitet. | | |
Da haben wir es: das Pferd wird nach 20 Minuten, vielleicht auch erst nach zwei Stunden wieder abgestellt - das ist dann schon ein Zeichen dafür, daß es Schwierigkeiten gegeben hat. Aber immerhin: jetzt wissen wir, worauf wir achten müssen, wenn wir Rückenprobleme vermeiden wollen.
Nach dieser Einleitung vermutet man jetzt eine Reitlehre, aber das ist natürlich nicht der Fall. Dieses Buch soll nicht Rückenprobleme vermeiden helfen, sondern bei vorhandenen Schwierigkeiten Hilfestellung bieten.
Dabei stellt sich heraus, daß es gar nicht so einfach ist, Rückenprobleme zu erkennen. Schließlich kann das Pferd nicht sprechen, und es gibt in der Regel auch keine Geräusche von sich. Man muß also von leichten Verhaltensänderungen auf die Ursache rückschließen.
Zwar gibt es Diagnoseverfahren in der Humanmedizin, die man auch auf Pferde anwenden kann, aber die sind so teurer, daß sie in der Regel nicht verfügbar sind.
| Hier tritt der Rückendoktor auf den Plan! Es gab einmal eine Zeit, da war das jemand, der mit seinen Händen und der Kenntnis der Hebelgesetze die Wirbel des Pferdes zurechtrückte. Heutzutage kann ein Rückenspezialist irgendein Therapeut sein, der nicht nur ohne sichtbaren Einsatz physischer Kräfte vorgeht, sondern auch noch von Harmonisierung von Energie und Entfalten einer Aura spricht! (Einleitung, Seite 11) | | |
Natürlich: ohne alternative Methoden geht es nicht. Selbstverständlich kommt auch die Homöopathie zur Sprache, die in der letzten Woche an der Reihe war (Rezension Homöopathie für Pferde). Chiropraktik und Osteopathie, Heilkräuter, Geistheilung, Bachblüten dürfen nicht fehlen.
| Bei der Behandlung von Rückenproblemen gibt es sicherlich einmal den Moment, sich der Fähigkeiten eines Geistheilers oder Handauflegers zu bedienen. Geistheilung ist die extremste Form von Medizin, die mit Energie arbeitet, und kann sehr wirkungsvoll sein. Pferde reagieren sehr gut auf Geistheilung und nehmen bereitwillig die Heilenergie auf, besonders wenn ihr Muskel- und Skelettsystem über längere Zeit hinweg geschwächt wurde. (Seite 119) | | |
Wenn wir das jetzt noch nicht ohne weiteres akzeptieren wollen, brauchen wir nur weiterzulesen:
| Entspannung für Körper und Geist wirken auf jeden Sportler stärkend, auch auf das Pferd. Keiner kann sich mit ganzem Herzen auf eine sportliche Leistung konzentrieren, wenn der Kopf durch Schmerzen abgelenkt wird. Geistheilung kann jederzeit hilfreich sein, aber besonders gut bekommt sie Pferden mit Rückenproblemen. | | |
Donnerwetter! Und das aus dem Munde einer erfahrenen Tierärztin!
| Alternative Medizin - Medizin, die mit dem Energiefluß arbeitet - wird häufig als Quacksalberei verworfen und jeder therapeutische Erfolg auf die Wirkung von Autosuggestion zurückgeführt. Doch vor noch nicht allzu langer Zeit war man der Ansicht, daß das kleinste Teilchen ein Atom sei - und heute wissen wir, daß es das nicht ist. Die Menschheit hat viel kleinere Teilchen entdeckt, als sie sich jemals ausmalen konnte, und die Möglichkeiten von Energieübertragung sind völlig überwältigend. Dadurch wird Medizin, die mit Energie arbeitet, zu einer zukunftsträchtigen und nicht etwa rückständigen Behandlungsform, auch wenn ihre Möglichkeiten Tausende von Jahren zuvor entdeckt wurden. Bevor wir diese Medizin ablehnen, sollten wir uns nur eine kurze Definition eines der größten Wissenschaftler unserer Zeit vergegenwärtigen: "Ein virtuelles Teilchen ist eines, das nie direkt entdeckt werden kann, aber dessen Existenz meßbare Wirkung hat." (Stephen Hawking, Kurze Geschichte der Zeit) (Seite 119) | | |
Wie bitte? Ist das ein Argument? Ist das logisch? Inwiefern sind Bachblüten vor Tausenden von Jahren entdeckt worden? Hat auch Samuel Hahnemann viel früher gelebt, als allgemein bekannt?
Es ist mir unverständlich, wie sich jemand so leichtfertig diskreditieren kann. Ich glaube nicht, daß die tierärztliche Ausbildung in England weniger den wissenschaftlichen Prinzipien folgt als in Deutschland, und die Autorin wird die wissenschaftlichen Methoden gelernt haben. Daß die tierärztliche Kunst nicht alles heilen kann und deshalb neue Methoden ausprobiert, ist verständlich und löblich. Man muß auch nicht alles, was wirkt, sofort erklären können.
Aber ich hätte doch gerne gewußt, ob die Autorin mit diesen Methoden arbeitet, ob sie damit bessere Erfolge erzielt als mit herkömmlichen Mitteln, und insbesondere, wie man an einen Therapeuten gerät, der diese Methoden erfolgreich einsetzt. Stattdessen lese ich:
| Warnung vor selbsternannten "Therapeuten" Zuweilen wird vergessen, daß diejenigen, die komplementäre Therapieformen praktizieren, tatsächlich eine professionelle Ausbildung haben. In den einzelnen Disziplinen kann diese Ausbildung mehrere Jahre dauern und jahrelange praktische Erfahrung voraussetzen, um diese Therapie beruflich ausüben zu können. Die meisten Menschen halten sich für medizinisch nicht gebildet genug, um ein spezielles Antibiotikum zu verschreiben, auch wenn sie vielleicht eine Spritze setzen können. Daneben gibt es solche, die meinen, es genüge, den Anschaltknopf zu kennen, um alles Notwendige für die Benutzung eines Ultraschallgeräts zu wissen. Es gibt sogar Leute, die noch bedenkenloser sind und, obwohl sie keinerlei Übung haben, Formen der manuellen Therapie praktizieren - und gutes Geld damit machen. Überflüssig zu sagen, daß damit viel Schaden angerichtet wird, nicht nur für die Brieftasche des Pferdebesitzers. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, sich vor so einem "Möchtegernheiler" zu schützen: die beruflichen Referenzen prüfen und Informationen über die Therapien selbst zu sammeln, bevor man den Therapeuten engagiert. (Seite 98) | | |
Nun bin ich noch verunsicherter als zuvor. So schlimm sieht es also in der Szene aus? Die Autorin müßte es ja wissen!
Jetzt will ich mal Farbe bekennen und ein Beispiel für die Art Erfolgsreferenz geben, die mir vorschwebt:
Es war 1999 auf der Equitana, als ich einen Menschen traf, der sich als "Knochenbrecher" bezeichnete. Ich glaube nicht, daß dieser Mann eine Ausbildung hatte oder beruflichen Organisationen angehörte. Knochenbrecher tun das im allgemeinen nicht; ich wüßte auch nicht, daß es eine spezielle Berufsvereinigung der Knochenbrecher gibt.
Diesem Mann wurde die Geschichte eines Pferdes erzählt, das angeblich "Kissing Spines" hatte, dem also die Dornfortsätze zusammengewachsen waren. So etwas kann man immerhin auf einer Röntgenaufnahme sehen. Das Pferd war zum Reiten nicht mehr zu gebrauchen. Da sagte der: "Wenn ich das schon höre! Kissing Spines gibt es gar nicht."
Da ist man natürlich platt. Röntgenbilder kann man nicht wegdiskutieren. Leider war das Pferd schon weg und man konnte die Probe aufs Exempel nicht mehr machen. Der Mann erzählte aber, daß unser Weltmeister im Vierspänner, Michael Freund, sein Kunde sei.
Der habe neulich eines seiner Pferde bei ihm in Behandlung gehabt und nach einigen Wochen angefragt, ob das Pferd wieder einsatzfähig sei, denn er habe in der Nähe ein Turnier und könne das Pferd bei der Gelegenheit vielleicht gleich abholen.
Das könne er. Ob er das Pferd auch gleich einsetzen könne? Das könne er. Der Knochenbrecher ging zum Turnier und nach dem Einsatz in den Stall, um Freund zu fragen, wie sich das Pferd gemacht habe. "Guck sie dir doch an!", soll Freund gesagt haben. "Drei sind klitschnass und eins ist trocken, und nun rate mal, welches!"
Das mag wie Prahlerei klingen, aber ich bin sicher, das war es nicht. Dieses Gespräch wurde mit einem internationalen Fahrrichter geführt, der den Knochenbrecher natürlich auch kannte, auf dem Stand der Firma Kühnle, die bekanntlich die Kutschen für die Weltmeister herstellt, und Michael Freund tauchte auf diesem Stand öfters auf; er hätte im nächsten Moment um die Ecke kommen können.
Mich interessierte natürlich die Geschichte dieses Mannes, aber er war nicht bereit, an die Öffentlichkeit zu treten. Er fürchtete den Ruhm, denn er hatte ohnehin mehr zu tun als ihm lieb war. Um Geschäftemacherei kann es ihm also nicht gegangen sein, um Ruhmsucht auch nicht.
Wenn die Autorin sensationelle Erfolge in dieser Richtung vorweisen könnte, hätte sie sicherlich darüber berichtet. Soweit ich das sehen kann, ist das nicht der Fall. Das Buch ist sehr detailliert in Bezug auf die anatomischen Einzelheiten und listet alle bekannten Sachverhalte auf, inklusive der schon erwähnten alternativen Methoden. Das ist mit Sicherheit nützlich und löblich.
Das Buch endet mit einer problematischen Feststellung und einer Empfehlung:
| Das größte Problem für einen Reiter zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Frage: Wissen wir, welches Gefühl wir erwarten können, wenn wir auf einem Pferd sitzen? Da es so viele Rückenprobleme gibt, wissen wir scheinbar nicht, wie sich ein gesunder Pferderücken anfühlt. Die Suche nach der Lösung der Rückenprobleme legt uns nahe, daß wir dieses Gefühl entwickeln sollten. (Seite 172) | | |
Wenn Sie, lieber Leser, liebe Leserin, ein Pferd mit Rückenproblemen haben, dürfte dieses Buch Sie interessieren, auch wenn Sie keine Wunder erwarten dürfen. Und wenn Sie andere Probleme haben, wäre es vielleicht angebracht, auch einmal an Rückenprobleme zu denken.
Oder umgekehrt: Rückenprobleme könnten vielleicht auch auf Hufprobleme hinweisen, oder die Ursache mag noch ganz woanders liegen. Mit anderen Worten: nicht nur bei den Menschen ist der Rücken problematisch, auch bei den Pferden. Man kann also nicht genug darüber wissen.
Die Autorin macht übrigens in Bezug auf eine Methode eine deutliche Aussage, und die ist tatsächlich Tausende von Jahren alt:
| Akupunktur wirkt und wirkt und wirkt ... Obwohl man heute die biologische Wirkung der Akupunktur recht gut erforscht und verstanden hat, konnte bisher niemand erklären, warum die therapeutische Wirkung bei Menschen manchmal sogar nach einer einzigen Behandlung mehrere Jahre lang anhält. Bei Pferden werden normalerweise vier bis sechs Behandlungen, jeweils eine pro Woche, durchgeführt. Es ist aber auch möglich, in monatlichen oder sogar jährlichen Abständen dem Körper eine kleine Auffrischung zu geben. | | |
Wenn man genau hinschaut, ist auch diese Aussage sehr schwammig. Ich habe mich selbst einmal nadeln lassen anläßlich einer Symptomatik, bei der die Schulmedizin ratlos ist: Tinnitus. Es hat nichts genützt. Das wäre toll, wenn die Wirkung jahrelang anhalten würde, aber leider ...
Auf Seite 162, im Kapitel "Tägliches Management", findet sich ein großes Foto mit einem wunderbaren, prachtvollen Hengst, der mit Lust über die Wiese tobt. Bildunterschrift:
| Artgerechte Haltung mit freiem Auslauf ist die beste Medizin für den Pferderücken. | | |
Eben. Nicht nur für den Pferderücken. Aber das ist ja nicht das Thema des Buches.
erschienen 13.04.03
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