Das Pferd, das unbekannte Wesen Über den Beginn eines neuen Zeitalters von › Werner Popken
Zum Thema Hufpflege |
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Vor drei Wochen habe ich » Pete Ramey erzählen lassen, wie sein gesamtes Weltbild innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen ist, als er das erste Mal wilde Pferde beobachtete. Dabei hatte dieser Mann denkbar viele Erfahrungen gesammelt und unglaublich viel gelernt. Nach seiner Einschätzung haben wir »noch nicht einmal die Spitze des Eisbergs berührt«. Wir wissen ihm zufolge nicht nur kaum etwas über Hufe, das ganze Wesen der Pferde ist uns eigentlich unbekannt.
Zu dieser Einschätzung trug ganz wesentlich die durch unmittelbare Anschauung gewonnene Erkenntnis bei, daß eingefangene Mustangs schon nach sechs Wochen nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, obwohl sie unter Umständen gehalten werden, die für Hauspferde nach seinen eigenen Standards als optimal gelten. Dieser Besuch wilder Pferde in ihrer Heimat hat sein Weltbild vollständig erschüttert. Ist das verwunderlich?
Wenn man der Ansicht ist, daß unsere Existenz im wesentlichen mechanistisch ist, daß wir selbst und alle anderen Lebewesen nichts weiter sind als etwas kompliziertere Maschinen, stellt sich lediglich die Frage, unter welchen Bedingungen sich diese Maschinen optimal entfalten können. Man kann sich dann noch darüber streiten, was der Begriff »optimal« genau zu bedeuten hat, aber ansonsten kann die Akte geschlossen werden. Viele Menschen meinen, daß der Fortschritt der Wissenschaft keine andere Ansicht zuläßt. Leben heißt für diese ein Zusammenwirken von biochemischen und physikalischen Zuständen und Abläufen, deren genaue Gesetzmäßigkeiten eines Tages vollständig aufgeklärt sein werden und keinerlei Ursachen und Eingriffe außerhalb dieser naturwissenschaftlich erfaßbaren Rahmenbedingungen zuläßt.
Diese Ansicht ist jedoch offensichtlich unhaltbar. Maschinen sind zweckmäßig, aber sie haben keine Seele, sie mögen vielleicht schön sein (schöne Autos: » Im Beauty-Salon), aber sie können nichts zum Ausdruck bringen wie etwa ein Ballettänzer oder ein Dressurpferd. Die für uns Menschen eigentlich begeisternde Wirkung geht nämlich über das rein Mechanische, das bloß Antrainierte, das lediglich Beigebrachte weit hinaus und wirft Fragen nach dem Geheimnis der Existenz, der Schönheit, der Würde, der Größe auf.
Auch Pete Ramey gehört offenbar nicht zu diesen Vulgärmaterialisten, denn »objektiv« ging es den eingefangenen Mustangs ja bestens und trotzdem erfaßte er deren desolate Situation auf den ersten Blick. Daran gab es für ihn auch nichts zu beschönigen: Der ergreifende Zauber der Pferde, der ihn in der Wildnis so vollkommen überrascht und unmittelbar gefangengenommen hatte, war unter diesen Umständen, offensichtlich dadurch verursacht, unwiederbringlich verschwunden und hatte einem Elend Platz gemacht, das ihm das Herz brach. Aus freien, stolzen und schönen Kreaturen waren gebrochene geworden.
Einen solchen Kontrast können wir hierzulande gar nicht erleben. Dabei gibt es auch bei uns schon seit vielen Jahren eifrige Aktivisten (» LAG e.V. (Laufstall-Arbeits-Gemeinschaft für artgerechte Pferdehaltung)), die sich dafür einsetzen, daß die Haltungs- und Lebensbedingungen der Pferde sich nach deren Bedürfnissen zu richten haben und nicht nach denen der Besitzer. Dabei darf man Letzteren keineswegs unterstellen, daß sie ihre Lieblinge bewußt oder unbewußt vernachlässigen - ganz im Gegenteil, denn von deren Wohlbefinden hängt schließlich oft eine ganze Menge ab.
Die extrem teuren Sportpferde, die bei uns grundsätzlich ausschließlich in Einzelboxen gehalten werden und in den meisten Fällen niemals auf die Weide kommen, und wenn schon, dann alleine, um das Risiko einer Verletzung auszuschließen, werden gehegt und gepflegt, besitzen vielleicht sogar ihren eigenen Osteopathen, ihren eigenen Tierarzt, ihren eigenen Trainer, auf jeden Fall aber ihren eigenen Betreuer, und alle Beteiligten strengen sich nach Kräften an, es diesem Pferd so angenehm wie möglich zu machen. Trotzdem muß man fragen: Geht es diesen Pferden gut? Werden ihre natürlichen Bedürfnisse erfüllt? Und wenn nicht: Können die das vertragen?
Denn schließlich leben wir auch nicht mehr so, wie die Natur uns einst gemacht hat. Die meisten Menschen verbringen die meiste Zeit ihres Lebens innerhalb von Häusern, nicht an der frischen Luft. Sie haben ihre Privatwohnungen, arbeiten in Büros oder Werkstätten oder Fabrikhallen, gehen abends vielleicht ins Kino oder in die Kneipe, ins Fitneßstudio oder auch mal in den Wald, aber überwiegend halten sie sich in Innenräumen auf - vermutlich gibt es sogar ziemlich umfangreiche Statistiken darüber. Diese Lebensweise ist für Menschen zweifellos hochgradig unnatürlich. Der Mensch hat sich seine eigene Umwelt geschaffen, und meistens ist die Frage gestattet, ob diese in der Weise »optimal« ist, wie Pete Ramey die Lebensbedingungen der eingefangenen Mustangs als »optimal« bezeichnete?
Wenn man die Frage so versteht, wird man zweifellos antworten müssen, daß die Lebensbedingungen der Menschen generell denkbar schlecht sind, und das drückt sich auch unmittelbar in ihrem Sein aus, vergleichbar mit dem Zustand der eingefangenen Mustangs. Die meisten von uns laufen bedrückt und betrübt durchs Leben, sind unzufrieden und unglücklich, sehnen sich nach etwas, das sie weder genau bestimmen noch umsetzen können - wir sind also im Grunde nur ein Schatten unserer selbst, weit entfernt von dem, was wir sein könnten - so wie die von der » BLM zur »Adoption« eingefangen Mustangs nach Pete Rameys Empfinden ihren Stolz, ihr Feuer, ihr Temperament, ihre Lebensfreude verloren hatten.
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