| | W. Popken im Fenster Selbstportrait 08/2004 | | | | 22.05.2011
Verantwortung
Haben Sie sich auch schon mal gefragt, was der Ausdruck „Verantwortung übernehmen“ heutzutage bedeuten soll? Das ist mir ähnlich unklar wie der Ausdruck „Ich entschuldige mich“ . Wann immer ich diese Worthülsen höre, frage ich mich, warum niemand vor Verzweiflung schreit. So kann man doch mit der deutschen Sprache nicht umgehen!
Ich schlage mal gerade eben einen tot und dann sage ich: „Ich entschuldige mich“ - und dann soll der Fall erledigt sein? Aber hallo! Man kann sich überhaupt nicht selbst entschuldigen, das ist unmöglich. Das ist eine falschverstandene Redewendung, die sich im Alltagssprachgebrauch breitgemacht hat, mit der jemand etwas in Anspruch nimmt, was er nicht in Anspruch nehmen kann.
Man kann allenfalls sein Bedauern über das ausdrücken, was immer vorgefallen ist, und dann denjenigen, dem Leid angetan wurde und der den Schaden zu tragen hat, um Verzeihung bitten. Ob der einem dann Verzeihung gewährt, steht ganz in seinem Ermessen. Er ist dazu nicht verpflichtet.
Und ganz ähnlich sieht es mit der Verantwortung aus. Da hat sich ein übler Sprachgebrauch eingenistet, der unbedingt und sofort und jedes Mal geahndet werden muß (wo sind Sie denn, Herr Sick? Hier würde es sich wirklich mal lohnen, sich zu ereifern!). Man kann nicht die Verantwortung übernehmen, indem man unverbindlich etwas daherlabert oder sich gar aus dem Staub macht. Der Sprachgebrauch wird insbesondere von Journalisten sehr gerne für terroristische Akte verwendet, wenn es heißt: Die und die Organisation hat die Verantwortung für den und den Anschlag übernommen. Wie bitte? Was haben die?
Ehrgefühl
Die haben überhaupt keine Verantwortung übernommen, die haben allenfalls behauptet, daß sie dieses Verbrechen begangen haben und brüsten sich auch noch damit! Wenn ich die Verantwortung für etwas übernehme, dann stehe ich für das gerade, was ich angerichtet habe.
Wenn ich beispielsweise im Supermarkt ein Glas runterwerfe, übernehme ich dafür die Verantwortung und bezahle den Gegenwert und beseitige die Schweinerei. Wenn die Mitarbeiter angewiesen worden sind, mir diese Verantwortung abzunehmen und die Schweinerei selbst zu beseitigen und deren Arbeitgeber den Schaden selbst trägt und mir damit ebenfalls die Verantwortung abnimmt, ist das zwar vordergründig schön für mich, aber auch beschämend, weil mir dadurch die Gelegenheit genommen wurde, die Verantwortung für mein Handeln selbst zu übernehmen.
Ich glaube, dieses Beispiel mit dem Supermarkt ist ganz gut gewählt: Das kann jeder nachvollziehen. Man fühlt sich einfach scheiße, wenn einem so etwas passiert ist und andere Leute hinterher auch noch den Dreck wegmachen müssen. Man schämt sich und möchte sich am liebsten verdrücken. Man wünscht, niemand hätte einen dabei beobachtet, aber einen gibt es leider immer, der dabei ist: Der liebe Gott. Der sieht alles. Der versteht natürlich auch alles und verzeiht alles, für den gibt es gar nichts Peinliches, aber der weiß ganz genau, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.
Deshalb wissen wir das auch, wir spüren das einfach, wir haben da so ein unangenehmes Gefühl, was immer das ist, und wenn jemand kein solches Gefühl hat, dann weiß man, daß dem etwas fehlt, daß der kein gutes Glied der Gesellschaft ist, der hat ein Problem, einen Defekt, und zwar hat weniger die Gesellschaft ein Problem mit ihm als er mit sich, und er weiß es noch nicht einmal.
Selbsterkenntnis
Jeder Andere weiß, daß er moralisch minderwertig ist, nur er selbst nicht. Aber das ist ein generelles Problem: Wem etwas fehlt, dem ist sehr häufig nicht bewusst, daß ihm etwas fehlt.
Nehmen wir beispielsweise den Verstand:
| Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.
- » René Descartes » Zitate | | |
Gerade der, dem es am Verstand mangelt, ist überzeugt davon, daß er alles versteht - während ein so weiser Mann wie » Sokrates seine Weisheit gerade dadurch zum Ausdruck brachte, daß er erkannte, wie wenig er weiß.
So weiß also der Ehrlose nichts von Ehre, der Lügner nichts von Wahrhaftigkeit, und der, der glaubt, sich als irgendeinem Schlamassel, den er angerichtet hat, mit einem simplen Ich entschuldige mich oder Ich übernehme die Verantwortung aus der Affäre ziehen zu können, weiß nicht, daß er den Schaden und das Leid, das er anderen zugefügt hat, damit nicht ungeschehen machen und sich nicht aus der Verantwortung stehlen kann - die Sprache weiß ganz genau, was hier passiert. Er hat sich einfach nur als moralisches Ungeheuer geoutet, er hat bewiesen, daß er gar nicht versteht, worum es geht, daß er einen Defekt hat. Derb umgangssprachlich nennt man so einen Menschen einen Verpisser.
Fukushima
Aktueller Anlass dieser Ãœberlegungen ist der Bericht » Reaktorunglück in Japan: Tepco-Chef tritt zurück. Die Kommentare der Forumsteilnehmer sind eindeutig: Die haben verstanden, worum es geht; ein paar Zitate gleich von Seite 1:
| - Wie will er die Verantwortung wirklich übernehmen? Zahlt er jetzt die 83Mrd.$ Folgekosten, die heute schon bekannt sind und Tepco nicht bezahlen kann? Oder bleibt das doch beim japanischen Steuerzahler hängen?
- Schon lustig, wie das in der Wirtschaft funktioniert:
Da haut einer ab und lässt alles was er verbockt hat liegen, und dann nennt SPON das "Verantwortung übernehmen." Ich hoffe, liebe Autoren, dass ihr eure Kinder nicht genauso erzieht... - mir ist nicht klar:
sind seine bonis gesichert? sind seine pensionsansprüche gesichert? hat er sich versichern lassen, dass er nicht wegen kriminelle energie, zumindest sträflicher fahrlässigkeit angeklagt wird? bekommt er einen orden wegen aufrichtigen bemühen nicht im wege zu stehen bei der rettungsarbeit? - Schon interessant, sich 'verkrümeln' ist das neue Verantwortung übernehmen... ich merke mir also, sollte mal etwas 'schief' gehen reicht eine höfliche Verbeugung und dann geh ich einfach, wieder etwas gelernt! :)
- Ein völlig unfähiger Kapitän verlässt im heftigsten Sturm die Brücke - sowas nennt man heutzutage "Verantwortung übernehmen"? Nein, neben erwiesener Unfähigkeit ist er auch feige. Stellt er wenigstens sein Privatvermögen zur Verfügung? Kürzt er in einem letzten Akt des Anstands die Tepco-Vorstandsbezüge um 75%? Geht er als Katastrophenhelfer zur Buße nach Fukushima?
» SPIEGEL ONLINE Forum: Reaktorunglück in Japan: Tepco-Chef steht vor der Ablösung | | |
» George Orwell hat in seinem Roman » 1984 sehr schön vorgeführt, wie das Bewusstsein durch Sprache verbogen werden kann: » Neusprech nennt sich der Trick, mit dem die Regierung den Leuten das Gegenteil dessen unterjubelt, was in Wirklichkeit passiert. Das Kriegsministerium heißt Friedensministerium, das Ministerium für Propaganda, was die ganzen Lügen verbreitet, nennt sich Ministerium für Wahrheit (siehe dazu auch mein Editorial der letzten Woche, wo ich den Begriff Brückentechnologie abklopfte: Sprache schafft Bewusstsein).
Auf der nächsten Seite des Forums hat jemand genau diese Art der Wirklichkeitsverfälschung durch Sprache knapp und präzise zum Ausdruck gebracht:
Die erste Zeile bezieht sich auf die Schweinehunde, die ganz oben stehen und sich dann verpissen, wenn es für sie zu heiß wird, die zweite Zeile auf unseren ehemaligen Verteidigungsminister, der sich vor aller Welt blamiert hat, selbst aber nichts davon wissen will und im übrigen ein Meister der Selbstentschuldigung ist, und die letzte Zeile auf ganz normale Kleinkriminalität, die bekanntlich in unserem Lande mit der äußersten Härte des Gesetzes verfolgt wird, im Gegensatz zu den ganz großen Verbrechen, bei denen die Richter immer ein ganz weites Herz haben.
Im übrigen sollte man vielleicht noch erwähnen, daß viele Foristen mutmaßen, daß der Chef für seinen Abgang noch eine riesige Abfindung bekommen wird, nach dem Motto: Je größer die Schweinerei, desto größer die Abfindung. Damit ihm die Übernahme der Verantwortung etwas erleichtert wird, vermutlich.
Spam
Der Spam der Woche: Eine URL als Text, 19 reale E-Mail-Adressen kompromittiert
Haiku
| - Wahrheit und Lüge.
Äh, ich entschuldige mich. Die Verantwortung.
- Klick mich! Oh Klick mich!
Die große Überraschung. Willst Du nicht wissen?
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Spruchweisheit
» Die Vision - unmöglich?
| Wer die Wahrheit nicht kennt, ist nur ein Dummkopf. Wer sie aber kennt und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher. » Galileo Galilei | | |
| | Chefredakteur und Herausgeber | | | |
» Im Ãœbrigen bin ich der Meinung, dass das » Bandbreitenmodell eingeführt werden muß, und zwar global.
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