| ...Nach etwa zehn Minuten ruhiger Zuckelfahrt durch unzählige kleine Seitengassen erreichten sie ein versteckt gelegenes, altes Gehöft, das zum Teil schon sehr hübsch restauriert worden war.
"Es ist leider noch viel zu tun, bis dieser alte Kasten wieder richtig schick aussieht, aber momentan bleibt mir dafür nur sehr wenig Zeit", meinte Dr. Winter entschuldigend, als sie mit knirschenden Reifen auf der breiten, kiesbestreuten Einfahrt anhielten, und deutete dabei auf das alte, teilweise ziemlich verwitterte und efeubewachsene Gemäuer.
"Also ich finde es sehr schön hier. Es erinnert irgendwie an ein altes Schloss oder eine Burg", geriet Linda sogleich ins Schwärmen und erntete dafür von dem jungen Mann ein dankbares Lächeln.
"Genau das habe ich mir auch gedacht, als mir das Haus vor zwei Jahren zu einem Spottpreis angeboten wurde. Allerdings habe ich die anfallenden Instandhaltungsarbeiten doch etwas unterschätzt. Stück für Stück werde ich es aber in den nächsten zwei, drei Jahren schon schaffen, daraus ein richtiges Schmuckstück zu machen", erklärte er voller Enthusiasmus.
"Na, da bist du ja endlich, Richard. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Warum hat es denn so lange gedauert? Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?"
"Keine, die diese junge Dame hier neben mir nicht im Handumdrehen gelöst hätte, aber das erzähle ich dir dann später genauer. Jetzt lass uns erst mal aussteigen und nach dem Pferd sehen, denn ich glaube, es wird schon langsam nervös!", schnitt Dr. Winter der neugierigen, äußerst attraktiven Frau, die plötzlich den Kopf in das geöffnete Autofenster steckte, das Wort ab.
Tatsächlich war aus dem Pferdeanhänger � seitdem dieser still stand � ein deutliches Scharren und Stampfen zu hören. Während der Fahrt hatte sich Lady mustergültig verhalten, aber nun schien sie es nicht mehr erwarten zu können, ihr enges Gefängnis verlassen zu dürfen.
Rasch kroch Linda durch die kleine Luke wieder ins Innere des Transporters, um die ungeduldige Rappstute zu beruhigen und loszubinden. Währenddessen öffnete deren neuer Besitzer die hinteren Verschlüsse und ließ langsam die Ausstiegsrampe hinunter. Er ging dabei sehr ruhig und vorsichtig vor, um das sensible Vollblut nicht unnötig zu erschrecken, doch diesbezüglich hätte er sich keine Sorgen machen müssen.
Wohlerzogen stieg Lady bedächtig rückwärts aus dem Hänger aus und verhielt sich auch anschließend im Freien � trotz der neuen Umgebung � verhältnismäßig ruhig. Belinda führte das edle Tier ein paar Schritte zur Seite und dieses folgte ihr anstandslos, nur ein wenig neugierig durch die Gegend blickend.
"Und das soll dieses schwierige Pferd sein, von dem du mir erzählt hast? Das ist doch wie ein Lämmchen so brav!", stellte die unbekannte Frau verwundert fest.
"Ich habe nie behauptet, dass es ein wirklich verrücktes Pferd ist, liebe Jasmin. Es hat nur aufgrund eines tiefen Traumas � infolge eines schweren Sturzes � ein Problem mit Hindernissen. Aber gemeinsam werden wir das bestimmt wieder in den Griff bekommen", erklärte der junge Veterinärmediziner zuversichtlich.
"Wenn das stimmt, hast du damit den Kauf deines Lebens gemacht, denn dieses Tier ist wirklich ausgesprochen schön und edel. Das Springen ist ja schließlich keine lebenswichtige Notwendigkeit! Mein Glückwunsch, aus dir scheint ja doch noch ein richtiger Pferdekenner zu werden!"
"Danke für das Kompliment! Zu gütig von dir. Du bist heute wieder einmal charmant wie eine Reißbürste", stieg Dr. Winter zwar auf den neckenden Ton ein, meinte dann aber � mit einer Kopfbewegung in Richtung Linda deutend � vorwurfsvoll, "Was soll da wohl unser Gast von uns denken?"
Diese hatte das ganze Gespräch selbstverständlich mitangehört und währenddessen möglichst unauffällig die attraktive Dame näher betrachtet. Obwohl diese noch sehr jugendlich wirkte und eine schlanke, sportliche Figur besaß, schätzte Belinda ihr Alter auf etwa 40 Jahre.
Ihr Gesicht war etwas wettergegerbt � wie bei vielen Menschen, die dem Reitsport bei jedem Wetter intensiv frönten � wirkte aber sehr ausdrucksvoll und interessant, und sie hatte tiefschwarz glänzendes, naturgewelltes Haar � genau wie Dr. Winter. Der einzige Unterschied zwischen den beiden bestand in der Farbe ihrer Augen, denn die ihren zeigten � im Gegensatz zu seinem strahlenden Grün � ein unergründliches dunkles Braun.
Die beiden schienen sich jedoch nicht nur äußerlich sehr ähnlich zu sein, sondern besaßen sichtlich auch viele charakterliche Gemeinsamkeiten. Sowohl ihre offene, herzliche Art, als auch ihr Sinn für Humor machten sie zu einem unvergleichlich sympathischen Paar.
Als Linda die beiden heimlich betrachtete, stellte sich bei ihr ein eigenartiges Gefühl der Eifersucht ein. Obwohl sie fand, dass die beiden � trotz des offensichtlichen Altersunterschiedes � herrlich zusammenpassten, und sie ihnen ihr gemeinsames Glück eigentlich durchaus gönnte, versetzte es ihr aus unerklärlichen Gründen doch einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend, als sie diese innige Vertrautheit zwischen ihnen spürte.
"Mein lieber Richard, du solltest dich zuerst selbst bei der Nase nehmen, bevor du andere kritisierst, denn falls deine hübsche Begleitung schlecht von uns denken sollte, dann nur deshalb, weil du sie hier mit dem Pferd an der Hand einfach so stehen lässt!", folgte prompt die Retourkutsche der schlagfertigen Frau.
"Da muss ich dir ausnahmsweise einmal Recht geben! Wir sind wirklich schreckliche Gastgeber, nicht wahr, Linda?"
Das angesprochene Mädchen sah verlegen zu Boden und schüttelte energisch den Kopf.
"Kein Problem! Ich habe Zeit, aber Lady würde wahrscheinlich gern ihre neue Unterkunft sehen", kam die zaghafte Antwort.
"Das glaube ich allerdings auch", pflichtete ihr der junge Tierarzt nun wieder ernsthaft bei. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg. Wir müssen hier außen ums Haus herumgehen, dahinter befinden sich die Stallungen und die Koppeln."
Als hätte Lady diese Worte verstanden, warf sie den edlen Kopf empor, nahm kurz Witterung auf und verkündete dann mit einem schrillen Wiehern ihre Anwesenheit. Sofort antworteten mehrere Pferdestimmen aus dem hinteren Teil des Anwesens mit ebenso lauten Begrüßungsschreien.
"Ah, die erste Kontaktaufnahme findet schon statt. Schüchtern ist sie ja nicht gerade, die junge Dame", stellte Jasmin lachend fest. "Bringt sie lieber rasch nach hinten, denn ich glaube, sie kann es kaum erwarten, die anderen kennen zu lernen."
"Stimmt. Sie ist schon ziemlich ungeduldig", stöhnte Linda, während sie vergeblich versuchte, die aufgebrachte Stute wieder etwas zu beruhigen.
"Soll ich sie führen?", bot der aufmerksame Tierarzt seine Hilfe an.
"Nein, danke, ich schaffe es schon allein!"
Diese Blöße hätte sich die Achtzehnjährige nie gegeben. Denn wenn sie nicht einmal mit ihrem Lieblingspferd fertig werden würde, wie sollte sie dann an eine berufliche Laufbahn mit Pferden auch nur denken. Also stapfte sie tapfer neben Lady durch das hohe Gras. Krampfhaft auf den holprigen Weg und die nervös trippelnde Stute achtend, nahm sie von ihrer Umgebung eigentlich sonst nichts wahr, bis die Stimme des Hausherrn sie aus ihrer angespannten Konzentration riss.... | | |