| ..."Bringst du mich jetzt in den Reitstall oder nicht?", fragte Linda ungeduldig.
"Nein! Wenn du unbedingt schon wieder zu diesem blöden Gaul willst, dann geh doch zu Fuß!", lautete Alexanders mürrische Antwort.
Belinda holte tief Luft, packte ihre Sachen und machte auf dem Absatz kehrt. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Wohnung. Als die Eingangstür hinter ihr knallend ins Schloss fiel, fühlte sie sich gleich etwas besser, trotzdem brodelte es immer noch in ihr.
Sie konnte ja verstehen, dass ihr Freund sauer war, weil sie die wenige freie Zeit, die ihr am Wochenende zur Verfügung stand, auch noch zum Teil bei ihrem Pflegepferd verbringen wollte, anstatt mit ihm gemütliche Stunden zu erleben. Aber andererseits konnte es mit seiner Liebe für sie doch nicht weit her sein, wenn er absolut nicht begreifen wollte, dass sie bei der Übersiedelung ihrer geliebten Stute einfach dabei sein musste.
Linda atmete tief durch, während sie raschen Schrittes die stille Seitenstraße entlanglief. Die noch frische Morgenluft und die flotte Bewegung taten ihr nach diesem hässlichen Streit sehr gut, denn so konnte sie am besten ihre aufgestauten, negativen Gefühle loswerden.
Im Nu erreichte sie die Hauptstraße, auf der sie geradewegs zum Reitstall gelangen würde. Zum Glück hatte sie sich die ziemlich einfache Strecke gut eingeprägt, so würde sie in einer guten halben Stunde sicher ihr Ziel erreichen.
Sie hoffte nur, dass sie nicht trotzdem zu spät kommen würde, denn Dr. Winter hatte sein Kommen für zirka 9 Uhr angesagt, und bis dahin würde sie es bestimmt nicht schaffen. Mit dem Auto hätten sie spielend zur rechten Zeit dort sein können, aber ihr lieber Freund war ja nicht bereit gewesen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Erneut stieg Ärger in ihr hoch, worauf sie sofort noch etwas schneller marschierte, um sich ordentlich abzureagieren.
Verschwitzt und ziemlich außer Atem erreichte das Mädchen um 9 Uhr 20 die Reitanlage. Ein grüner Pajero mit einem kleinen hölzernen Pferdeanhänger älteren Baujahrs stand mitten im Hof, und eine Menge Leute tummelten sich ringsumher.
"Hallo, Linda! Gut, dass Sie endlich da sind! Ich habe schon befürchtet, dass Sie gar nicht mehr kommen."
Dr. Richard Winter klang ausgesprochen verzweifelt.
"Hallo! Ich habe doch gesagt, dass ich auf jeden Fall da sein werde, wenn Lady uns verlässt, und ich halte eigentlich alle meine Versprechen. Ich hatte allerdings nicht eingeplant, dass ich zu Fuß hierher gehen musste", erklärte Belinda ihre Verspätung.
"Oh, hatten Sie Schwierigkeiten?", fragte der junge Tierarzt sogleich besorgt.
"Ja, so könnte man es wohl nennen, aber das ist momentan nicht so wichtig. Mich interessiert vielmehr, warum Sie mich so dringend brauchen. Gibt es ein Problem mit Lady?"
"Naja, drücken wir es einmal so aus: Ich konnte sie bis jetzt noch nicht davon überzeugen, dass der Anhänger völlig ungefährlich ist und sie nur in ein neues wunderschönes Zuhause bringen wird", meinte Dr. Winter kleinlaut.
"Hat sie etwa nun auch davor Angst?", wunderte sich Linda über das seltsame Verhalten ihrer sonst so gelassenen und folgsamen Pflegestute.
Sollte sich ihre Neurose in Bezug auf Springplatz und Hindernisse tatsächlich so rasch auch auf andere Dinge ausgeweitet haben?
"Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich unser Traumpferd vor dem Pferdetransporter wirklich fürchtet, aber es war trotzdem nicht dazu zu bewegen, die Rampe zu betreten. Es sah für mich beinahe so aus, als würde Lady diesen Stall hier einfach nicht verlassen wollen.
Möglicherweise liegt das daran, weil sie hier so liebevoll von Ihnen gepflegt wird, oder sie verbindet mit dem Gang in einen Pferdeanhänger nicht nur einen gewöhnlichen Transport, sondern vor allem Stress und Hektik, Turniertrubel eben, sowie natürlich auch das Springen. All dem möchte sie verständlicherweise am liebsten aus dem Weg gehen."
"Aber wie soll ich Ihnen da helfen?"
"Vielleicht irre ich mich ja, aber da die Stute zu Ihnen das meiste Vertrauen hat und an gemeinsame Spaziergänge gewöhnt ist, hoffe ich doch, dass Sie sie zum Einstieg überreden können."
"Natürlich kann ich es probieren, denn bis jetzt habe ich außer beim Springplatz noch nie ein wirkliches Problem mit ihr gehabt, aber versprechen kann ich leider nichts", baute das unsichere Mädchen einem möglichen Misserfolg bereits vor.
Doch dann ging eigentlich alles wie am Schnürchen. Lady begrüßte ihre zweibeinige Freundin mit einem freudigen Wiehern und nach einem kurzen Schmusezeremoniell folgte sie ihr ohne Zögern bereitwillig in den Pferdeanhänger. Ob sie damit allerdings wirklich nur ihr grenzenloses Vertrauen in das Mädchen bewies, oder ob auch die saftige Karotte, die Linda ihr vor die Nase gehalten hatte, eine Rolle dabei spielte, war im Nachhinein nicht festzustellen.
Sämtliche Zeugen dieser Vorstellung waren jedoch sichtlich beeindruckt, denn es schien fast so, als hätte die Stute nur auf ihre Betreuerin gewartet.
"Ihr seid ja anscheinend wirklich ein Herz und eine Seele!", meinte Dr. Winter gerührt, als er Belinda nach dem Schließen der Rampe bei der vorderen Ausstiegsluke heraushalf.
"Naja, ich nehme an, Lady spürt genau, dass ich sie nie absichtlich in Gefahr bringen würde. Deshalb vertraut sie mir, und außerdem haben wir doch sehr viel Zeit miteinander verbracht, das schweißt eben zusammen."
"Das mag schon sein, aber ich glaube nicht, dass eure Beziehung auf einer so gewöhnlichen Basis aufgebaut ist. Ich habe den Eindruck, dass zwischen euch eine sehr innige, gegenseitige Liebe besteht. Eine derart außergewöhnliche Erfahrung wird leider nur sehr wenigen Menschen zuteil. - Sie können sich also sehr glücklich schätzen!"
Die Stimme des Tierarztes klang bei diesen Worten beinahe etwas wehmütig, doch Linda war außer sich vor Freude.
"Meinen Sie wirklich?", fragte sie begeistert.
"Also für mich besteht da kein Zweifel. Ich bin der Meinung, dass ihr beide einfach füreinander bestimmt seid, und dem möchte ich auch keineswegs im Weg stehen. Wie ich schon gestern sagte, können Sie Lady also selbstverständlich jederzeit besuchen, und wenn Sie jetzt noch etwas Zeit hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns noch nach Hause begleiten würden. Dann würde sich Lady bestimmt sehr viel rascher in der neuen Umgebung eingewöhnen. Ich bringe Sie danach natürlich auch wieder hierher zurück. Einverstanden?"
"Einverstanden. Ich komme gerne mit. Ich muss erst am Nachmittag wieder arbeiten, also habe ich massenhaft Zeit", beteuerte Linda sofort - wohlwissend dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Alex hatte nämlich sehr wohl einiges mit ihr vorgehabt, aber wenn ihn ihre Wünsche nicht interessierten, war es in ihren Augen nur recht und billig, dass sie auch nicht den seinen entsprach.... | | |