| ...Es war ein herrlicher Sonntagmorgen. Die frische, klare Luft und der bereits kräftige Sonnenschein ließen einen heißen Sommertag erwarten. Auf dem Reitgelände herrschte angenehme Stille, denn anscheinend wollten alle einmal richtig ausschlafen. Das heißt fast alle, denn ein Mädchen bildete die große Ausnahme.
Belinda genoss die Spaziergänge mit Lady in den frühen Morgenstunden ganz besonders. So wollte sie auch den heutigen ersten und für sie zugleich letzten Ferientag gemeinsam mit ihrem Traumpferd, das nun plötzlich ein realer Teil ihres Lebens geworden war, auf diese Weise beginnen.
Mittlerweile waren das schlanke Mädchen und die edle Rappstute bereits ein ziemlich eingeschworenes Team. Wären sie vom Aussehen her nicht so unterschiedlich gewesen, hätte man sie glatt für eineiige Zwillinge halten können, so unzertrennlich waren sie. Die ganze nähere Umgebung hatten sie bereits zu Fuß erkundet, trotzdem wurde den beiden nie langweilig.
Für Linda bedeutete dieses gemütliche Dahinschlendern die beste Entspannung, die sie sich vorstellen konnte, und auch Lady profitierte offensichtlich davon, denn ihre Genesung schritt zügig voran. Der Tierarzt hatte bereits voller Optimismus erklärt, dass die Stute voraussichtlich ab Herbst wieder langsam auftrainiert werden könnte. Doch bis dahin sollte sie weiterhin unter Belindas Obhut bleiben.
Diese hatte in den letzten Tagen ihre Matura mit gutem Erfolg abgeschlossen und würde sich nun ihrem Liebling noch intensiver widmen können. Das hoffte sie wenigstens, sicher war dies allerdings keineswegs. Schließlich begann morgen ihr erster Arbeitstag hier im Reitstall, und wie viel freie Zeit ihr dann noch bleiben würde, wusste sie jetzt noch nicht. Doch für das pferdebegeisterte Mädchen war klar, dass es notfalls eben die Mittagspause für die neue vierbeinige Freundin opfern würde.
Heute jedenfalls führte Linda ihr Traumpferd in die nahe gelegene Au, watete mit ihm durch eine seichte Stelle des Flusses und ließ es dann am anderen Ufer grasen. Sie selbst lehnte währenddessen an einem Baumstamm und achtete darauf, die lange Führleine stets gespannt zu halten, damit die Stute nicht aus Versehen darauftreten konnte.
Stundenlang hätte Belinda so zusehen können, wie ihr majestätischer Liebling die Grasbüschel voller Appetit und doch mit so viel Grazie verspeiste. Leider war das heute jedoch nicht möglich, denn sie musste bis spätestens 10 Uhr 30 zu Hause sein.
Ihre Eltern wollten nämlich unbedingt mit ihr die bestandene Matura gebührend feiern. Ein Mittagessen im Restaurant und ein Besuch im Wiener Prater, dem größten Vergnügungspark Österreichs, standen auf dem Programm. Linda war zwar von dieser Idee nicht sonderlich begeistert, da sie ihr Essen viel lieber gemütlich zu Hause einnahm und auch dem Fahren mit Karussellen oder Geisterbahnen nichts Besonderes abgewinnen konnte, wollte aber ihren Eltern dieses seltene Vergnügen nicht verderben.
Also machte sich Belinda frühzeitig auf den Rückweg, um sich nicht unnötig abhetzen zu müssen. Als sie auf den Feldweg einbog, der direkt zur Reitanlage führte, bemerkte sie in einiger Entfernung einen Reiter, der ihr im gestreckten Galopp entgegenkam.
Sie schob Lady, die alarmiert den Kopf hoch empor warf und in regungsloser Starre verharrte, resolut an den Feldrand heran, um dem heranpreschenden Reiter Platz zu machen. Doch als dieser sie erblickte, bremste er sein Pferd leicht ein, riss es brutal nach links herum und verschwand im nächsten Getreidefeld.
Linda starrte ihm fassungslos hinterher, aber da die strahlende Morgensonne sie blendete, konnte sie das Gesicht des scheinbar übergeschnappten Reiters nicht erkennen. Was sie allerdings sehr verwunderte, war seine überaus ungewöhnlich beleibte Figur. Noch nie war ihr ein derart großer und dicker Pferdebesitzer oder Reitschüler hier im Stall der Familie Wegner begegnet.
Linda fragte sich, wer dieser rücksichtslose Irre wohl gewesen sein könnte. Dass es in dem Kopf dieses Mannes - die Möglichkeit, dass es sich bei besagter Person auch um eine Frau handeln könnte, zog das Mädchen irgendwie gar nicht in Erwägung - auf alle Fälle nicht ganz richtig tickte, stand jedenfalls fest, denn sonst würde er wohl kaum ein fast erntereifes Kornfeld mit seinem Pferd förmlich durchpflügen.
Verwundert den Kopf schüttelnd und ihrer ebenso überraschten Pflegestute den Hals tätschelnd, setzte Belinda den Heimweg rasch wieder fort, denn auf jeden Fall musste sie ihrer Reitlehrerin sofort von diesem Vorfall Meldung machen, damit nicht womöglich ein anderer unschuldiger Reiter oder gar sie selbst für den Täter gehalten wurde. Schließlich würde der Bauer wohl nicht lange mit einer saftigen Schadenersatzforderung auf sich warten lassen, da die Hufe in der vom letzten Regen noch weichen Erde sicher deutliche Abdrücke hinterlassen hatten.... | | |