| ...So, nun war es endlich soweit! Die Woche der schriftlichen Maturaprüfungen war überstanden, und Linda konnte nun ihrer Reitlehrerin und Frau Linshalm mitteilen, dass sie sowohl den Ferienjob als auch die Betreuung von Lady übernehmen durfte.
Unerwarteterweise hatte sie von ihren Eltern auch noch ein vorverlegtes Maturageschenk bekommen. Es handelte sich dabei um ein nicht mehr ganz neues, aber funktionstüchtiges Mofa, womit sie unabhängig von ihrer Mutter in den Reitstall fahren konnte, wann immer sie wollte.
Für die meisten ihrer Schulkameradinnen wäre dieses Geschenk wohl zu schäbig gewesen, doch Linda war wirklich überglücklich darüber. Erstens wusste sie es durchaus zu schätzen, dass sich ihre Eltern das Geld dafür förmlich vom Mund abgespart hatten, und zweitens gab ihr dieses Gefährt ein Gefühl der Freiheit und Selbständigkeit.
Es war Samstag, so gegen 16 Uhr, als Belinda mit ihrer Neuerrungenschaft auf den Parkplatz des Reitstalls einbog. Sie hatte für den Weg zwar etwa fünfzehn Minuten länger als mit dem Auto gebraucht, aber sie war stolz, ihn ohne Pannen geschafft zu haben. Nicht einmal ein Stoppschild hatte sie übersehen, wovor ihre Mutter die größte Panik gehabt hatte.
Linda stellte ihr Mofa ab und betrat das Hauptgebäude, in dem sich unter anderem die Reithalle und etwa dreißig der insgesamt sechzig Pferdeboxen befanden. Es waren dies so genannte Innenboxen, denn sie vergönnten ihren Insassen keinen Ausblick ins Freie. Dafür hatten sie den Vorteil, dass sie im Sommer angenehm kühl und fast ohne störende Insekten waren. Hier befanden sich die Schulpferde und auch einige Privatpferde, die ständig trainiert wurden. Da für sie zusätzliche Bewegung nicht so wichtig war, kamen sie nur stundenweise auf die Weide.
Im Gegensatz dazu konnten sich die Bewohner der - im nächsten Trakt anschließenden - Außenboxen tagsüber frei bewegen. An jede Box grenzte an der Außenseite ein kleiner Paddock - ein Auslauf von drei mal zehn Meter - an. Bei geöffneter Tür hatten die Pferde die Möglichkeit, zwischen einem Aufenthalt im Freien und im Stall zu wählen. Ganz nach Lust und Laune konnten sie umherwandern oder auch ruhen. Gut verträgliche Tiere teilten sich zu zweit einen doppelt so großen Platz.
Ein Tor am Ende jedes Paddocks führte zu einer gemeinsamen weitläufigen Wiesenkoppel, welche die Tiere bei Schönwetter stundenweise abwechselnd in kleinen Gruppen benutzen durften. In diesen Außenboxen befanden sich überwiegend Jungpferde, aber auch Freizeitpferde und ältere Tiere, die weniger oder gar nicht geritten wurden und deshalb auch mehr freie Bewegung brauchten.
Etwas abseits von den anderen stand noch ein kleines Gebäude, nämlich der Abfohlstall, der den Mutterstuten und ihren Fohlen vorbehalten war und derzeit eben auch Lady beherbergte. Dorthin zog es Linda unwiderstehlich, doch zuerst wollte sie noch rasch Romeo und den anderen Schulpferden einen Besuch abstatten. Sie hatte frische Karotten aus dem eigenen Garten für ihr Traumpferd mitgebracht, wollte aber auch den anderen eine Kostprobe zukommen lassen.
Als das Mädchen nun beim Vorbeigehen auch einen neugierigen Blick in die Reithalle warf, sah es, dass Frau Wegner gerade eines ihrer Jungpferde longierte. Heftig schnaubend und mit kraftvollen Tritten umrundete der Dreijährige in noch etwas unregelmäßigen Kreisen seine Trainerin.
Belinda wollte die beiden nicht bei der Arbeit stören und wandte sich nach einem kurzen Gruß wieder zum Gehen, doch ihre Reitlehrerin ließ das Pferd sofort anhalten und rief ihr hinterher: "Falls du zu deiner neuen Favoritin möchtest, musst du dich noch ein bisschen gedulden. Frau Linshalm macht gerade einen Spaziergang mit ihr. Ich glaube, sie möchte sich auf diese Weise von ihr verabschieden, da sie in den nächsten drei Wochen wahrscheinlich keine Zeit haben wird, sie zu besuchen. Es ist also sicher besser, du störst sie einstweilen nicht."
Als Bettina das enttäuschte Gesicht des jungen Mädchens sah, lachte sie: "Na, nun sei doch keine Trauerweide, du wirst deinen Liebling noch oft genug sehen. Oder hast du etwa die Matura nicht geschafft?"
"Natürlich habe ich die schriftlichen Prüfungen bestanden! Ich weiß zwar noch keine genauen Noten, aber es ist alles gut gegangen. Ich habe auch die Erlaubnis bekommen, bei dir zu arbeiten und Lady zu betreuen", strahlte Linda voller Vorfreude.
"Na also, dann ist ja alles in Ordnung, und du kommst auch gerade zum richtigen Zeitpunkt. Wenn du willst, kann ich dir jetzt das Longieren beibringen."
"Aber wenn ich etwas falsch mache, schade ich womöglich deinem jungen Pferd!", äußerte das junge Mädchen angstvoll seine Bedenken.
"Natürlich kannst du Sylvester nicht gleich selbst longieren", stellte Bettina mit einem Schmunzeln richtig. "Du sollst mir nur einmal bei der Arbeit zusehen, und ich erkläre dir die einzelnen Handgriffe. Später kannst du es dann bei einem ruhigeren Schulpferd selbst probieren."
"Ach so, dann ist es ja gut", meinte Belinda erleichtert. "Natürlich würde ich das Longieren gern erlernen, wenn du mir das zutraust."
"Warum denn nicht? So schwer ist es auch wieder nicht. Außerdem bin ich der Meinung, dass man fast alles erlernen kann, wenn man nur wirklich will und auch bereit ist, hart dafür zu arbeiten. Also, komm schon endlich her, damit wir anfangen können, denn um 17 Uhr habe ich bereits die nächste Unterrichtsstunde", drängte Frau Wegner zur Eile....
› Folge 11 | | |