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Editorial zu Ausgabe 485 | ||||||||||||||||
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Sterbehilfe Das Thema ist wieder einmal aktuell: Wann ist das Leben nicht mehr lebenswert? Darf jeder über sein Leben selbst bestimmen? Unabhängig von der theoretischen Frage gibt es seit jeher die Praxis der » Selbsttötung. Laut Wikipedia handelt es sich dabei sehr häufig um Kurzschlußhandlungen, die aus Krankheitszuständen begründbar sind, im wesentlichen » Depressionen. Als Beleg wird zum Beispiel angeführt, daß sich von über 500 Personen, die sich ursprünglich von einer Brücke stürzen wollten und davon abgehalten werden konnten, letzten Endes nur 30 wirklich umgebracht haben (Untersuchung an der » University of California, Berkeley). Aber auch hierzulande kam man zu ähnlichen Ergebnissen:
Vor fünf Jahren wurde von der » Weltgesundheitsorganisation erstmals der » Welt-Suizid-Präventionstag ausgerufen, um auf dieses Tabuthema aufmerksam zu machen, weil der Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme der Gegenwart darstelle. Es handelt sich also um kein kleines Problem. Für jeden erfolgreichen Suizid rechnet man 10 bis 15 mißlungene Versuche, die sehr häufig zu schweren, dauerhaften Gesundheitsschäden, also Behinderungen, führen. Plädoyer Aus gegebenem Anlaß wurde neulich das Thema "Sterbehilfe" besonders engagiert diskutiert. Jemand, der sich selbst als unheilbar krank bezeichnete, erklärte, der Kranke müsse selbst entscheiden, was er tragen wolle; diese Entscheidung sei allerdings nicht von den medizinischen Befunden abhängig, sondern davon, ob man ein krankes Leben und auch das Durchleiden eines solchen Lebens als sinnvoll bezeichnen könne. Darüber könnten nicht die Angehörigen und Sterbehelfer entscheiden. Angesichts der teuren Versorgung und Behandlung und des allgemeinen Sparwillen könne man das Recht auf Leben nicht mehr für selbstverständlich halten. Außerdem sei es hilfreich, wenn der Sinn seines eigenen kranken Lebens nicht ständig erklärt werden müsse. Es sei genauso schön und sinnvoll wie jedes andere Leben auch, und wegen der Begleitung von Freunden sei es auch tragbar bis zum Tode, wie jedes andere Leben auch. Die Belastung durch die akute Bedrohung durch den Tod sei zwar vorhanden, habe das Leben aber auch kostbar gemacht, und daher könne er seine Lebenszeit sehr genießen und hoffe, daß er auch in Zukunft nicht einsam sei, genug Schmerzmittel erhalte, um mit Menschen sprechen zu können, gut gepflegt werde und seine geliebte Musik immer hören zu können. Dann bedürfe es keiner Sterbehelfer und keiner Gesetze. Die einsame Frau in Würzburg hätte unter solchen Umständen vermutlich nicht sterben wollen. Das Leiden und Sterben sei grundsätzlich ein Teil des Lebens und die Menschheit müsse wieder lernen, dessen Begrenztheit anzunehmen und zu ertragen. Das könne man den Menschen zutrauen. Im übrigen müsse die Sorge um das Sterben immer von der Sorge um das Leben begleitet sein. Wenn die sozialen Umstände dieselbe Sorgfalt erfahren würden wie die Sterbewünsche, würden diese gar nicht erst entstehen. Sinnfrage Diese Aussage hat mich sehr angerührt. Ich würde die Kernfrage noch erweitern: "Welchen Sinn hat das Leben überhaupt?" Nicht nur das kranke Leben will gerechtfertigt werden, das Leben insgesamt ist fragwürdig und bedarf der Rechtfertigung. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich halte das Leben für absolut gerechtfertigt, in jedem Fall, nur meine ich, daß die Frage gestellt und beantwortet werden muß. Warum lebe ich? Wofür lebe ich? Was ist mir wichtig? Was macht mir Freude? Womit kann ich mir selbst im Angesicht des Todes gegenübertreten? Das Leben ist endlich und es ist kurz. Im Grunde haben wir keine Zeit zu verschwenden, wenn wir ein sinnvolles und erfülltes Leben führen wollen. Behinderungen In gewisser Weise paßt die Diskussion um die Sterbehilfe gut zum Thema unseres Hauptartikels. Die dort geschilderten Menschen strotzen geradezu vor Lebensfreude und Lebensmut und beweisen ununterbrochen, daß sie sich durch Schwierigkeiten, die anderen unerträglich vorkommen mögen, nie und nimmer unterkriegen lassen wollen. Wie kann das sein? Warum verlieren Menschen den Mut, denen es objektiv gesehen sehr gut geht, und umgekehrt schöpfen andere aus objektiv schlechten Voraussetzungen ungeheure Kräfte? Könnte es sein, daß der Wert des Lebens gering zu sein scheint, solange das Leben leicht fällt? So wie Wasser demjenigen nichts bedeutet, bei dem es jederzeit aus der Wand fließt, während es anderen äußerst kostbar ist, weil sie lange gedürstet haben? Wären in diesem Sinne Behinderungen eine Daumenschraube, die den Wert des Lebens erhöhen? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es wäre natürlich völlig falsch, die Wasserleitungen stillzulegen, damit die Menschen den Wert des Wassers wieder schätzen lernen! Andererseits wäre es aber vielleicht sehr hilfreich, den erfahrenen Mitmenschen zuzuhören, die wissen, was Wasser, einfaches, gutes Wasser wirklich bedeutet. Man könnte diese Erfahrung vielleicht sogar selbst machen, indem man für eine Weile auf alle verfeinerten Getränke verzichtet und nur noch Wasser trinkt, bis man dieses wieder schätzen kann. Die Methode wäre ja nicht neu. Wer ständig unter Lärmbelastung zu leiden hat, zieht sich am besten für eine Weile in die Stille zurück. Wer hektisch lebt, sollte für eine kleine Zeit am Tag ruhig werden und meditieren, damit er sich wieder zentriert und seine Mitte findet, aus der heraus er seine Kraft schöpfen kann. Wer unter falschen Werten leidet, sollte diese hinter sich lassen und nicht länger ruhen, als bis die wahren Werte zutage gefördert sind. Ich bin sicher, die Behinderten haben den Nichtbehinderten eine Menge zu sagen. In diesem Sinne brauchen die Nichtbehinderten die Behinderten ganz nötig. |
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