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| Das sind klare Worte, vielleicht ein bißchen zu selbstbewußt, denn in gewisser Weise widerspricht die Autorin sich selbst. Zwar will sie hinschauen, um mehr zu sehen, zu erkennen, zu lernen, und gibt zu, daß sie gelernt hat und weiterhin lernen muß, was ja alles beinhaltet, daß niemand allwissend zur Welt kommt, daß jeder sich alles Wissen im Laufe der Zeit erarbeiten muß, womit gleichzeitig gesagt ist, daß niemand jemals alles wissen und beurteilen kann, sondern immer nur von seinem jeweiligen Standpunkt aus urteilen kann, der naturgemäß ständig überholt wird.
Daraus ergibt sich wiederum, daß ein jegliches Urteil wohl bedacht sein muß. Es könnte sein, daß man entscheidende Zusammenhänge übersieht oder gar nicht versteht. Das zeichnet eigentlich Wissenschaftlichkeit aus - immer nach alternativen Erklärungen suchen, stets die naheliegende Erklärung zu widerlegen trachten, und diese selbst dann nicht für bare Münze zu nehmen, wenn es nicht gelingen sollte, denn das könnte ja lediglich der eigenen Schwäche geschuldet sein, während jemand anders sofort den Fehlschluß oder die Beweislücke zieht.
Nehmen wir z. B. die Sache mit den Hufen. Frau Birmann vergleicht mit der Brille und den Schuhen. Nun sind beide typischerweise Hilfsmittel, die gleichzeitig Nutzen und Schaden anrichten. Wer Schuhe anhat, gewinnt Bequemlichkeit und verliert zugleich den Kontakt zum Boden. Wir haben den Kontakt zum Boden schon soweit verloren, daß wir den Verlust gar nicht mehr bemerken. Aber niemand würde aus diesem Grunde ohne Not ständig Handschuhe tragen - das braucht man nicht weiter auszuführen.
Bei der Brille ist es noch krasser: die Brille entspricht einer Krücke. Wer sich an die Krücke gewöhnt, wird niemals wieder richtig laufen können. Ich kann das wohl sagen, denn vor ziemlich genau 35 Jahren bekam ich durch die Vorbereitung zu meiner Diplomarbeit Probleme mit meinen Augen. Also ging ich zum Augenarzt, was ja vernünftig erscheint. Der hörte sich meine Beschwerden an - die Zeilen meiner Lektüre verschwammen vor meinen Augen, ich sah drei Zeilen auf einmal und keine scharf, konnte also praktisch nicht mehr lesen - und handelte professionell. Er maß meine Augenstärke, stellte eine leichte Fehlsichtigkeit fest und verschrieb eine Brille. Merkt hier irgend jemand etwas?
Ich fuhr also zum Optiker, ohne mir viel dabei zu denken; beide Eltern trugen eine Brille, also wußte ich, was auf mich zukommen würde. Die einzige Sorge schien, ein schickes Modell auszuwählen - ansonsten gab es keine Alternative. Es dauerte ein paar Tage, bis ich die fertige Brille abholen konnte. Auf dem Wege nach Hause fuhr ich beim Supermarkt vorbei und mußte mich dort an der Fleischertheke anstellen. Natürlich trug ich stolz meine neue Brille. Nach einer Weile wurde mir ganz schlecht. Ich verstand das gar nicht, mutmaßte dann aber, daß es mit der Brille zusammenhängen könnte und nahm sie ab. Meine Hand zitterte dabei so stark, daß sie zu Boden fiel. Glücklicherweise zerbrach sie nicht, aber die Leute um mich herum wunderten sich.
Das gab mir zu denken. Ich setzte die Brille nicht wieder auf, bis ich zu Hause war. Aber was sollte ich damit anfangen? Ich stellte fest, daß ich mich an die Brille gewöhnen mußte. Natürlich sah ich zunächst alles wunderbar scharf - die Welt war wieder klar und schön! Aber nach einer Stunde bekam ich Kopfschmerzen. Ich mußte die Brille für eine Weile absetzen. Aha, mein Körper reagierte negativ, ich mußte ihn also langsam daran gewöhnen - was eigentlich heißt, ihn zu vergewaltigen, aber das konnte ich natürlich nicht so sehen.
Ich setzte die Brille dann auch in der Universität auf. Da begegnete mir jemand, den ich flüchtig kannte. Und dieser sprach mich an, wegen meiner neuen Brille. Er bekannte, selbst auch eine Brille zu tragen, aber ich hatte ihn nie mit Brille gesehen. Das hatte seinen Grund: Er setzte die Brille nur auf, wenn es unvermeidlich war, im Kino und beim Autofahren, weil die Brille im Führerschein eingetragen war. Ansonsten versuchte er ohne Brille zu leben, um nicht davon abhängig zu werden.
Aber er wollte mir keinen Vortrag halten. Jemand hatte ihm ein Büchlein empfohlen, das ihm die Augen öffnete. Dieses Buch empfahl er nun mir. Ich besorgte es mir (» Weg mit der Brille), es überzeugte mich, ich legte die Brille weg und begann mit den Übungen. Nach ein paar Wochen sah ich wieder ausgezeichnet, und zwar ohne Brille. Seither beobachte ich meine Augenstärke und weiß, daß diese durchaus schwankt. Unter Streß sehe ich zum Beispiel schlechter, aber das beunruhigt mich nicht, weil meine Augen ja kein Automat sind und durchaus auf meine Befindlichkeit reagieren dürfen, wie mein restlicher Körper auch. Wenn meine Augen sehr leiden, mache ich ein paar Übungen, und dann geht es ihnen wieder besser. Ich bin überzeugt, daß ich mein ganzes Leben keine Brille brauchen werde. Und das ist gut so.
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