Wie schön, daß wir diese Frage nicht sofort beantworten müssen. Langfristig sollten wir vielleicht einen Schutzbund für bedrohte Ostfriesen einrichten. Die Ostfriesen haben nämlich ihre sehr besondere Eigenart über die Jahrhunderte immer wieder zäh verteidigt und bis heute einigermaßen bewahren können.
Ob das so bleiben wird, ist durchaus zweifelhaft. Wenn es für die Ostfriesen keine Zukunft in Ostfriesland gibt, wird auch die ostfriesische Eigenart leiden. Altes Kulturgut geht unwiederbringlich verloren.
Zum Beispiel hat Enno Siemers noch einen typisch ostfriesischen Namen. Siemer ist nämlich genau wie Enno ein Vorname, ein ostfriesischer Vorname. Enno Siemers bedeutete ursprünglich Enno, Sohn des Siemer. Enno hätte nach alten ostfriesischen Regeln seinen Sohn wieder Siemer nennen müssen, dessen Name dann Siemer Ennen gewesen wäre: Enno / Ennen, Onno / Onnen, Ubbo / Ubben (Patronymische Namensgebung, » Tipps und Hinweise für die Familienforschung in Ostfriesland).
Die Ostfriesen haben ihre Namen vielfältig abgewandelt (Heinrich => Hinrich => Hinnerk => Heink => Heinz). So ist nicht nur Siemer, sondern auch Siemen ein ostfriesischer Vorname. Man darf daher vermuten, daß die Familie Siemens ostfriesischen Ursprungs ist (» Siemens). Alle Nachnamen, die auf 's' enden, sind verdächtig, eigentlich Vornamen zu sein, die über die Abstammungsregel zum Nachnamen geworden sind.
| Namensgebung einst und jetzt Heimatforscher hat über 40 000 Namen gesammelt Von Dieke van Dieken (OZ v. 24.11.2000)
In Ostfriesland wurden die Kinder häufig nach Familienangehörigen benannt. "Der erste Sohn bekam den Vornamen des Großvaters als seinen eigenen und den Vornamen des Vaters als Nachnamen", erklärt Manno Peters Tammena. Vereinfacht gesagt, der Sohn von Bonne Ennen hieß Enne Bonnen. So blieben bestimmte Namen über Jahrhunderte in der Familie. Namen wie Harm Harms, Focke Focken oder Didde Diddens folgen ebenfalls dieser Tradition.
Auch als in Ostfriesland feste Familiennamen eingeführt wurden, setzten viele Ostfriesen diesen Brauch fort. Nun hatten die Leute einen Zwischennamen. Hieß der Vater Wiard Janssen Poppinga, war der Name seines Sohnes Jan Wiards Poppinga. Diese Namengebung ist laut Tammena nur noch in Ostfriesland erlaubt. "Da die Namen an das Plattdeutsche gekoppelt sind, werden sie wohl irgendwann mit der Sprache verschwinden", glaubt der Forscher. » Namen | | |
So geht Kultur verloren. Im Falle der Namensgebung hat es 250 Jahre gedauert, bis die Friesen nachgegeben haben. Diverse Fürsten und Beamte hatten sich die Zähne ausgebissen. Napoleon herrschte nicht lange genug, aber auch bei ihm wäre der Erfolg durchaus zweifelhaft gewesen. Die Ostfriesen wissen, was passiver Widerstand heißt:
| Als 1874 die ersten Standesämter eingeführt wurden, waren die Standesbeamten hartnäckiger als die einheimischen Dickköpfe. Es wurde nun wirklich darauf geachtet, dass feste Familiennamen bei den Eintragungen verwendet wurden. Doch die Ostfriesen wären nicht ihrem Ruf gerecht geworden, wenn sie nicht auch diesmal Schwierigkeiten gemacht hätten. Noch viele Jahre waren die Familiennamen zwar auf dem Papier, aber im alltäglichen Leben nicht vorhanden! Sie wurden schlicht ignoriert. Als dann schließlich so langsam eine Gewöhnung eintrat, stellten sich die Ostfriesen noch ein letztes Mal stur. Und so ist Ostfriesland heute noch der einzige Ort, an dem Vornamen erlaubt sind, die eigentlich Familiennamen sind. So waren die Ostfriesen bis heute in der Lage, ihre Tradition zumindest teilweise fortzusetzen, indem sie den Namen des Vaters als 2.Vornamen tragen. Namen wie : Tette Janßen Fleßner sind überall verboten...nur bei den Ostfriesen nicht! » Tipps und Hinweise für die Familienforschung in Ostfriesland | | |
Nun haben sie diesen Widerstand aufgegeben, zumindest in Bezug auf die Namensgebung. Der Sohn von Enno Siemers heißt schlicht Stephan, ein Name, wie er überall im Lande anzutreffen ist. Die Familie Siemers ist damit einem Trend gefolgt: In der Statistik der Standesämter Ostfrieslands tauchen ostfriesische Vornamen heutzutage erst ab der 20. Stelle auf - die Hitliste wird von Namen angeführt, die bundesweit in Mode sind.
Die Situation ist symptomatisch. Unter anderem über die Namen haben die Ostfriesen sich jahrhundertelang eine besondere Identität geschaffen, wie wir gesehen haben. Das ist bereits zum größten Teil untergegangen, ganz ohne staatlichen Zwang; so etwas muß verwundern, wenn man sich den jahrhundertelangen Widerstand gegen die Normalisierung vor Augen führt. Die Ostfriesen wollen inzwischen nicht mehr die Zugehörigkeit zu ihrer Sonderkultur über den Namen kundtun. Wer einen ostfriesischen Vornamen hat, schämt sich zuweilen sogar dafür: Ein Jugendlicher meinte, daß er außerhalb Ostfrieslands mit einem normalen Namen besser bedient sei (» Namen). Und darauf muß er sich ja einrichten: sein Leben in der Fremde zu verbringen, unter Nicht-Ostfriesen.
Wenn man nicht mehr zu seiner Eigenart steht, ist es um die Erhaltung dieser Eigenart nicht mehr gut bestellt. Deshalb wird es nach meinem Dafürhalten höchste Zeit, für die Pflege der ostfriesischen Kultur einzutreten. Warum sollen seltene Pflanzen, Vögel und Käfer von öffentlicher Hand gefördert werden, wenn menschliche Kulturwerte sang- und klanglos untergehen? Das ist auch schlecht für die Tourismusindustrie. Wenn es in Ostfriesland so ist wie überall, warum sollte man dann dorthin fahren? Je exotischer, desto besser für das Geschäft.
Enno Siemers hat jedenfalls die Zeichen der Zeit verstanden und vermarktet sein Ostfriesentum erfolgreich. Als eine Fernsehreporterin ihn um eine Stellungnahme bat, antwortete er auf die Frage, was seine Pferde auszeichne: "Die sind wie die Ostfriesen, sehr umgänglich." Darauf die verblüffte Reporterin: "Ach, sind Sie Ostfriese?" Enno: "Ja sicher, das sieht man mir doch an: blaue Augen, lange Nase, wie Otto." Diese Sequenz wurde natürlich gesendet, und die Schar der hochberühmten Warmblutzüchter wie Klatte hatten zur Belustigung von Enno Siemers das Nachsehen.
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