Gerade die Fähigkeit, sich über objektive Beschränkungen zu erheben und trotz aller Schwierigkeiten grandiose Schöpfungen zu erschaffen, führte zum modernen Mythos des armen Künstlers, der nur so lange groß ist und bedeutende Werke schafft, wie er in Armut lebt, seine schöpferische Fähigkeit jedoch verliert, sobald Anerkennung, Ruhm und Geld über ihn hereinbrechen.
Dieser Mythos ist natürlich falsch, enthält aber doch einen wahren Kern. Das künstlerische Feuer ist unabhängig von äußeren Beschränkungen, die Segnungen der Gesellschaft hingegen durchaus zweifelhaft und fähig, den vitalen und gesunden Künstler zu korrumpieren und letzten Endes zu zerstören - wie beispielsweise die Hollywood-Stars ständig in aller Öffentlichkeit beweisen.
Es gibt sogar die Behauptung, daß Kunst ohne Grenzen gar nicht möglich ist. Pablo Picasso war zum Beispiel der Meinung, daß Kunst sich immer gegen irgend etwas auflehnen müsse und deshalb der Wegfall aller Beschränkungen und Grenzen, wie er für die moderne Akademiesituation charakteristisch ist, für die Kunst tödlich sein müsse. Diese Behauptung trifft vielleicht nicht auf jeden Künstler zu, zeigt aber, welche Energie aus dem Kampf gegen Beschränkungen gewonnen werden kann, die anderweitig gar nicht zur Verfügung gestanden hätte. So sind mehrfach Fälle extremer körperlicher Beeinträchtigung bezeugt, die durch Willensanstrengung überwunden wurden und infolgedessen zu sportlichen oder künstlerischen Höchstleistungen führten; diese wären vermutlich ohne die Behinderung gar nicht angestrebt und deshalb auch nicht erreicht worden.
Picasso hatte übrigens unrecht mit seiner Unterstellung, daß sämtliche Grenzen weggefallen seien. Das sah nur auf den ersten Blick so aus. In Wirklichkeit haben die jeweils siegreichen Neuerer neue Grenzen aufgestellt, gegen die dann die Jüngeren erfolgreich rebellieren konnten. So gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Diktatur der abstrakten Malerei, die dann einer Diktatur der populären Gebrauchsmalerei, genannt Pop Art, weichen mußte. In gewisser Weise ähnelt das Geschehen also dem Diktat der Mode, dessen herausragendste Merkmale ja gerade einerseits die Unerbittlichkeit und andererseits der Wandel sind. Ein weiteres Beispiel ist die immerwährende Auflehnung der Jugend. Wenn man nicht gegen irgend etwas rebellieren kann, erfährt man sich selbst und seine Grenzen nicht.
Übertragen auf die Tiere heißt das nun, daß die von Pete Ramey beklagte Zerstörung der vitalen Kräfte vielleicht zunächst unvermeidlich sind, jedoch keineswegs zwangsläufig dazu führen müssen, daß diese ein weniger erfüllendes Leben führen als ihre in Freiheit zurückgelassenen Kumpanen. Das Leben in Freiheit ist ja auch keineswegs ständig grandios, sondern den gleichen erniedrigenden und widerwärtigen Bedingungen unterworfen wie das Leben insgesamt. Der fiktive indianische Zauberer » Don Juan Matus des peruanisch-amerikanischen Anthropologen » Carlos Castaneda, der bei diesem in die Lehre gegangen sein will, schildert eine Begebenheit, die mir nie wieder aus dem Sinn gegangen ist und diese Situation ganz gut beleuchtet.
Castaneda ist sehr stolz, weil er meint, sich in diesem Zusammenhang richtig verhalten zu haben. Eine Freundin hatte einen verzogenen Stubenkater, der zum Tierarzt mußte; die Freundin hatte deswegen ziemliche Ängste und Gewissenskonflikte. Er konnte ihr dabei nicht helfen, brachte die beiden aber zum Arzt, und als sie aus dem Fahrzeug kletterten, entwischte der Kater und verschwand in der Kanalisation, woraufhin die Freundin sehr erleichtert war. Castaneda stellte sich nun vor, wie dieses Schmusetier zum Schrecken der Kanalratten mutieren und sein Leben in Freiheit in vollen Zügen genießen würde.
Zu seiner Überraschung stimmte sein Lehrer nicht zu, sondern nutzte die Gelegenheit zu einer Lektion. Der Krieger müsse sich stets sämtlicher Alternativen gewahr sein und im Bewußtsein dieser Alternativen blitzschnell entscheiden auch auf die Gefahr hin, die falsche Entscheidung zu treffen. Er müsse in jedem Fall die Konsequenzen so gut wie möglich überblicken und anschließend auch in vollem Umfang tragen. In Bezug auf den Kater heiße dies, daß dieser als verhätscheltes und dem Lebenskampf im Grunde gar nicht gewachsenen Haustier vermutlich innerhalb der nächsten Minuten von den durch den grausamen Überlebenskampf im Kanal gestärkten Kanalkatern oder auch von den nicht minder furchterregenden Kanalratten massakriert worden ist. Der Sprung in die vermeintliche Freiheit wäre in diesem Fall also ein Sprung in den Tod gewesen.
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