In den folgenden Tagen übst Du nach dem Longieren den Vorgang in kurzen Reprisen auf beiden Händen, wobei vor allem auch Du die Lernende sein wirst, wenn es um Deine Geschicklichkeit geht, das Pferd auch an seiner rechten Seite eben so sicher zu führen und übertreten zu lassen. Am besten geschieht das in ruhigen, gleichmäßigen Tritten. Ein schwäbischer Reiter würde sagen: �no net hudle!'
Etwas Grundlegendes fällt mir grade ein: Ich hatte ein Rezept, das mir geholfen hat, mein Gefühl für Ursache und Wirkung in den Wechselbeziehungen der Bewegung und der Einflüsse zwischen mir und meinem Pferd zu festigen:
Ich habe durch mein ganzes Reiterleben häufig auch ohne Pferd, wo ich ging und stand, alle gerade relevanten Vorgänge neben oder auf dem Pferd intensiv vor meinem inneren Auge ablaufen lassen und mir meine Impulse und ihre Wirkung auf das Pferd ins geistige Gefühl geholt. Ich versetzte mich ins Gefühl des Reiters gegenüber den verschiedenen Reaktionen des Pferdes und dann auch wieder ins Gefühl des Pferdes gegenüber den Hilfen des Reiters; ich w a r Pferd und fühlte die Empfindlichkeit seines Mauls, spürte die Kontraktion der Bauchmuskeln gegenüber dem starken Einsatz des Sporns oder das steif Werden des Genicks und der Hinterbeine gegenüber der blockierenden Hand. Dieses �gedankliche' Üben hat mir viel geholfen; und wahrscheinlich auch meinen Pferden, die ich ritt.
Bin ich in einem klassischen Konzert oder höre in Ruhe klassische oder auch sehr rhythmische Musik, reite ich auch heute noch intuitiv mit, ich kann gar nicht anders. Aber ich glaube, das hat mich sehr sensibel gemacht für die gemeinsame Bewegung, die ja weitgehend ein rhythmisches Miteinander ist. Es nützt nichts, die Theorie guten Reitens auswendig hersagen zu können, ohne die Theorie auch durchdacht und inwendig installiert zu haben. Man muss immer das Bild der jeweiligen Lektion, der jeweiligen Bewegung klar vor seinem inneren Auge haben, um es in die Praxis umsetzen zu können.
Ich erwähne das um zu sagen, dass es nicht genügt, nur vom Sattel aus sein Pferd zu �bearbeiten', sondern es ist das geistige und körperliche Reiten zugleich, das �Reiten zur Gänze', dass zum Erfolg von Reiter und Pferd führt. Das gilt für jede Ausbildungsstufe. Ein guter Reiter ist nicht nur, wer in der obersten Klasse auf Turnieren die Preise einheimst, sondern ebenso ein Reiter, der entsprechend der Veranlagung seines Pferdes auch in den unteren Klassen der dort möglichen Perfektion nahe kommt, auch dann, wenn er kein Publikum hat. Die Freude, der Genuss beim Reiten ist weit mehr, als sich innerhalb von vier oder wenig mehr Minuten mit Noten von eins bis zehn einreihen zu lassen in eine Gruppe von Reitern. Der Genuss harmonischer, gemeinsamer Bewegung sollte das Ziel jeden Reiters sein, der Auftritt vor Publikum und Richtern ist nur ein wenig Salz an der Suppe.
Noch einige abschließende Wort zum �Übertreten lassen': dass es als Vorbereitung für das Schenkelweichen und die Seitengänge unter dem Reiter nützlich ist, erwähnte ich schon.
Es dient aber auch ganz allgemein als lösende Vorbereitung auf die Arbeit Deines Pferdes unter Deinem Gewicht. Durch das wechselseitige Dehnen und Nachgeben der Bauchmuskulatur beim Übertreten wird nicht nur eine gymnastische und kräftigende Wirkung erzielt und werden nicht nur Verspannungen gelöst, sondern das Übertreten verbessert auch die seitliche Durchlässigkeit. Ebenso verbessert sich die Beweglichkeit und Kraft der Rückenmuskeln, der tragenden Brücke.
In der Praxis bedeutet es, dass Dein Pferd durch die Arbeit an der Hand, insbesondere durch das Übertreten lassen, vor Deinem Aufsitzen bereits weitgehend von Spannungen befreit ist und sich losgelassen bewegt. Wenn Spannungen beseitigt sind, ist das auch für Deine Sicherheit ein Vorteil, denn Eskapaden von Pferden unter dem Sattel resultieren fast immer aus noch bestehenden Verspannungen.
Das war's für heute, tschüß, Küsschen für Koralle.
P. S. Was ich noch berichten möchte: grade komme ich mit SAMBA (Collie-Dalmi-Mix, 12 Jahre, beißt für ihr Leben gern andere Hunde, liebt Menschen, vor allem Männer, bis zur Ekstase), komme ich also mit diesem Extremhund nach Hause von einem Spaziergang. Unterwegs begegneten mir zwei Mädchen, ein Fahrrad und ein Pferd. Das eine Mädchen saß auf dem Pferd, das andere auf dem Fahrrad. Das Pferd war ein kräftiger Brauner. Er war ganz tief und stark ausgebunden, sodass er nicht mehr in der Lage war, den Weg vor sich und die Gegend um sich in Einzelheiten wahrzunehmen, sondern der arme Kerl musste sich blind auf seine Reiterin verlassen.
Der kilometerlange und etwa drei Meter breite grüne Randstreifen, auf dem die Maid mir stolz entgegentrabte, war buckelig und, mit Wasser-Ablaufrinnen vom Feld her durchsetzt, ein prächtiger Stolperstreifen, auf dem außerdem die schweren Traktoren durch das Wenden bei der jahreszeitlich verschiedenen Feldarbeit Vertiefungen und große Erdbrocken hinterlassen hatten.
Durchdenke mal die Situation, in der das Pferd tatsächlich stolpert, fällt und mit seinen Ausbindern förmlich gefesselt nicht mehr hochkommt, es sei denn, die Ausbinder reißen, sein Maul dabei wahrscheinlich auch. Reißen sie nicht, hat das eng ausgebundene (gefesselte!) Pferd keine Chance, sich hochrappeln zu können, falls sich Pferd und Reiterin nicht vorher schon das Genick gebrochen haben.
Beobachte mal, wenn ein Pferd aus dem Liegen wieder aufsteht: erst stemmt es sich auf seinen Vorderbeinen hoch und dann erst auf den Hinterbeinen und das zunächst in einer Art Schräglage durch das zuvor seitliche Liegen, also seitlich gebogen. Denn ein Pferd kann nicht auf seinem Bauch liegen, sondern immer nur auf einer Seite. Mit eng geschnallten Ausbindern ist ihm ein wieder Hochkommen unmöglich.
Also: im Gelände, sei es geführt oder unter dem Reiter, keinerlei Hilfszüge am Pferd bitte!! Das Pferd braucht seinen Hals unter anderem als Balancierstange, ihm diese im Gelände wegzunehmen durch Ausbindezügel, die noch dazu zu tief und zu eng geschnallt sind, möchte ich als reiterliche Unreife bezeichnen, bei der sich ein Reiten im Gelände absolut verbietet!
Die Mädchen kamen mir später auf ihrem Rückweg noch mal entgegen. Ich sprach sie freundlich an und versuchte dem Mädchen auf dem Pferd klar zu machen, in welche Gefahr sie sich und ihr Pferd durch die Hilfszügel bringt. Antwort: �Wenn das nicht Ihr Pferd ist, geht Sie das gar nichts an.' Ich hatte diese oder eine ähnliche Antwort aus Erfahrung ohnehin erwartet, aber vielleicht denkt das Mädchen in einer ruhigen Stunde doch mal über das Thema nach, hoffe ich. Dann wäre meine Ansprache nicht umsonst gewesen.
Also noch mal tschüß, mach es besser!
Quellen / Verweise
Fotos
› G. Schultz-Mehl
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