Für das Floß der Medusa hat Géricault Realitätsstudien betrieben. Vor der afrikanischen Küste lief ein Schiff auf Grund, der Kapitän rettete sich mit der Mannschaft und ließ die Passagiere im Stich.
Diese bauten ein Floß. Als schließlich nach 12 Tagen Rettung kam, lebten von 149 Menschen nur noch 15. Genau diese Situation der Rettung hat Géricault nachgestellt. Er hat ein Floß bauen lassen und Leichenschauhäuser und Anatomieabteilungen von Krankenhäusern besucht. Also ein 'Realist', der hinschaut?
Es nicht einfach, die wirkliche Situation auf See nachzuempfinden, das leuchtet ein. Darum geht es aber auch gar nicht. Das Publikum sollte beeindruckt werden, wie beim Hufschmied lag auch beim Floß der Medusa eine politische Absicht zugrunde - von wegen Realismus!
Bei unserer Skizze entfallen alle solche Einwände. Hier soll nicht mehr gezeigt werden, als man sieht. Diese Stute ist nicht Symbol für die unterdrückten Handwerker. Sie steht für sich. Und doch, wenn man genau hinschaut ...
Wie der Begleittext richtig erkennt, ist dies ein wertvolles Pferd, das in einem vornehmen Stall wohnt und mit Sicherheit einem sehr reichen Menschen gehört, der dieses Pferd gebührend behandeln läßt.
Géricault hat sehr viele Bilder von Rennen gemacht. Auch die Pferderennen waren und sind ein Vergnügen der sehr reichen Leute. Vermutlich sind die Pferdegemälde, die Géricault berühmt gemacht haben, ebenfalls von diesen reichen Leuten gekauft worden.
Die Stute wirkt etwas zu kompakt, als daß sie als Rennpferd, als Galopper durchgehen könnte. Die Schulter tritt ein wenig zu stark hervor, aber was mich irritiert hat ist das Fohlen: dieses Fohlen sieht weniger aus wie ein Fohlen als vielmehr wie eine verkleinerte Ausgabe der Mutter.
Die Beine sind zu kurz und der Rumpf ist zu kompakt, um nicht zu sagen: zu dick, zu voluminös. Die Mutter hat einen ordentlichen Hinterschinken - das ist soweit in Ordnung, aber das Fohlen kann nicht auch schon so gebaut sein; schließlich ist es gerade erst aus dem Bauch der Mutter herausgekommen.
Die richtigen Proportionen sehen wir auf einem Foto aus dem Bildschirmschoner zur heutigen Ausgabe, das ich zur besseren Vergleichbarkeit gespiegelt habe.
Man sieht sofort: die Proportionen eines Fohlen unterscheiden sich sehr deutlich von denen eines erwachsenen Pferdes.
Dieses Fohlen hat so lange Beine, daß es unmöglich unter dem Bauch der Mutter hindurchlaufen kann. Der Rumpf und die Hinterhand sind viel kleiner als die auf der Zeichnung, und trotzdem kann man sich kaum vorstellen, daß es einmal im Bauch der Mutter war.
Beide Fohlen sind mit Sicherheit schon ein paar Wochen oder gar Monate alt. Im Vergleich jedoch wird ganz offensichtlich, daß die Darstellung von Géricault unglaubwürdig ist.
Bekanntlich ist es sehr schwierig, genau zu sehen. Das gesamte Mittelalter hindurch wurden Kinder als kleine Erwachsene dargestellt. Könnte es sich hier um einen solchen Fehler handeln?
Vielleicht ist dies eine Erklärung. Selbst nach so langen Jahrhunderten technischen Fortschritts in der Malerei und sorgfältiger Ausbildung fällt es offenbar schwer, richtig zu sehen. Dazu gleich noch ein berühmtes Beispiel.
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