 | | | Digitalkamera: das Papier ist nicht weiß ... |  |  |  |
|  | | | Wann wird ein Pferd ein Pferd? |  |  |  |
| | Das Pferd ist zweifellos ein Pferd, da gibt es keine Diskussionen. Wir hatten in der letzten Woche gesehen, daß die Darstellung eines Pferdes für Kinder große Probleme bereitet.
Luisa hatte den Körper des Pferdes als langgestrecktes Rechteck wiedergegeben. Im Vergleich dazu stimmen die Proportionen bei Leonard besser. Die Rückenlinie und die Bauchlinie sind sogar deutlich moduliert.
Unklar ist ihm, wie der Schweif am Körper befestigt ist. Das hatte seine Schwester besser heraus. Diese wiederum hatte dem Pferd Streichholzbeine spendiert. Bei Leonard ist zumindest das eine Hinterbein deutlich dicker als die Vorderbeine.
Beide verändern jedoch die Dicke der Beine nicht; das ist aber bei Pferden durchaus der Fall. Insbesondere kann man die Gelenke nicht übersehen, die bei den Kindern überhaupt nicht vorkommen. Im Gegenteil, dort wo die Beine abgeknickt sind, werden sie eher dünner als dicker.
Leonard hat die Füße des Pferdes sehr deutlich und liebevoll gezeichnet. Es handelt sich also um einen Sohlengänger. Ich würde diese Spezies Pferdebär taufen. Seine Schwester hat hingegen die Hufe des Pferdes sehr deutlich hervorgehoben: das sind schwarze Rechtecke.
Woraus ich schließe, daß der Junge eine wesentlich geringere Affinität zu Pferden hat als das Mädchen. Er hat einfach nicht genau genug hingeschaut, Pferde interessieren ihn eigentlich nicht, und nur, weil er nun seinen Onkel besucht und der sich für Pferde interessiert, muß er notgedrungen ein Pferd zeichnen. Der Arme!
Wesentlich mehr interessiert er sich für das Fahrzeug. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß es sich um eine Langbaumkonstruktion handelt? Ganz deutlich sieht man unterhalb des Kutschenkastens einen dicken schwarzen Strich, der vermutlich die Vorderachse mit der Hinterachse verbindet.
Nun kommen ihm leider die Räder dazwischen. Die Räder sind rund, das ist schon einmal klar, und sie haben Speichen. Speichen wiederum sind gleichmäßig um die Nabe angeordnet, die Wiedergabe stellt also ein gewisses Problem dar. Man sieht deutlich, daß ihm die Speichen nicht so sauber gelungen sind, wie er das gerne wollte.
Und nun der Langbaum! Wie kriegt man das hin, daß dieser mit der hinter dem Rad verdeckt liegenden Achse ordnungsgemäß verbunden wird? Ebenso der Haken, der mit dem Seil verbunden ist, welches die Bracke festhält, die wiederum an den Hinterbeinen des Pferdes befestigt ist.
Leonard hat sich dafür entschieden, diese technischen Einzelheiten der Phantasie des Betrachters zu überlassen. Das Bild ist also als Schilderung sichtbarer Einzelheiten zu lesen, die für sich genommen gewertet werden und nicht unbedingt so zu sehen sind.
Das ist ein legitimes Verfahren, das von den Malern des Mittelalters regelmäßig eingesetzt wurde und heutzutage im Comic zu finden ist: Bringe Dinge in einem Bild zusammen, die räumlich oder zeitlich getrennt sind. Das Bild ist definitiv keine Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern eine Umsetzung, eine Erzählung.
So etwa wie: "Und vorne dran ist da ein Haken, der ist verbunden mit..." Die Bracke ist einfach unglaublich: perspektivisch gezeichnet, nicht als starres Stück Holz, sondern als geformtes Werkstück mit Verdünnung zu den Ende hin. Das Seil ist ordnungsgemäß in der Mitte befestigt. Im Vergleich mit dem Haken ist die Bracke geradezu virtuos gestaltet.
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