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Editorial zu Ausgabe 477

 
W. Popken im Fenster
Selbstportrait 08/2004
 
 
18.05.2008

Würde der Kreatur

Die Schweiz ist Vorreiter in Sachen Tierschutz. Vor drei Jahren wurde ein neues Tierschutzgesetz verabschiedet, das jetzt mehr und mehr ausgestaltet wird. Eine Nachricht war es wert, den Sprung in die Nachrichten der Medien zu schaffen: » Haustierhaltung nur noch im Doppelpack.

Gemeint ist damit, daß soziale Tiere (wozu bekanntlich auch die Pferde gehören) nicht mehr einzeln gehalten werden dürfen. Es reicht also nicht mehr, eine Ziege als "Beistellpferd" anzuschaffen (es soll sogar Leute geben, die selbst diese Ausgabe scheuen).

Dabei haben die Schweizer in Einzelfällen sämtliche Konsequenzen bedacht. Was ein Pferdehalter tun soll, der sich zwei Pferde nicht leisten kann, liegt auf der Hand: er muß sein Pferd in eine Pension geben. Wer ein Meerschweinchen hält und sich kein zweites leisten kann, soll ein solches kostenlos vom Züchter gestellt bekommen, an den das Zweittier zurückgeht, wenn das erste stirbt und der Besitzer die Haltung aufgeben will.



Übergangsfristen

Natürlich wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. So hielt sich der Protest auch in Grenzen, die neuen Vorschriften stoßen überwiegend auf Zustimmung. Die Anbindehaltung für Pferde etwa wird erst in fünf Jahren verboten sein, obwohl schätzungsweise höchstens fünf Prozent der Pferde betroffen sind. Auch die Doppelpack-Regelung tritt erst im Jahr 2013 in Kraft (» Pferde: Was sich mit der neuen Tierschutzgesetzgebung ändert!.

Pferde brauchen Bewegung, viel Bewegung, stellen die Behörden fest und verlangen deshalb einen täglichen Auslauf oder Ausritt. Pferde, die nicht genutzt werden - darunter fallen auch Zuchtstuten, Fohlen und Jungpferde - müssen täglich mindestens zwei Stunden lang freien Auslauf haben, wobei die Fläche mindestens 150 Quadratmeter betragen muß. Wer diese und alle anderen Vorschriften kontrolliert, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Wie es aussieht, bleibt es den Tierhaltern überlassen, die Normvorstellungen umzusetzen. Solange sich niemand beschwert, wird sich also nichts ändern.



Rechtsmittel

Mit diesen Regelungen ist allerdings ein Rahmen geschaffen worden, innerhalb dessen die Behörden und der Staat agieren können. Es geht ja nicht nur um die Privatleute, sondern auch um die professionellen Tierhalter.

"Was gäbe ich dafür, im Tierschutz Ihre weit reichenden Regularien zu haben!" schreibt Daniela Türnau, Amtstierärztin von Rotenburg/Wümme, auf der Homepage des Schweizer Bundesamts für Veterinärwesen. "Als Amtstierärztin in Deutschland kann ich immer nur staunend und voller Neid auf die Schweiz blicken. Leider bin ich nicht der Lage, Meerschweinchen aus Einzelhaft zu befreien und Wellensittichen einen Partner zu organisieren, und selbst beim Pferd ist es mir nicht immer möglich, dafür zu sorgen, dass es nicht allein oder nur mit Weidepartnern einer anderen Art gehalten wird. Ich würde mir Ihre Gesetze auch für die Bundesrepublik Deutschland wünschen, es würde uns viel Arbeit erleichtern."

» a.a.O.

Zwar stammt diese Information vom 14. Mai und ist also gerade vier Tage alt, trotzdem läßt sich die Behauptung nicht verifizieren. Möglicherweise hat die Amtsperson, die sich auf diese Art und Weise öffentlich geäußert hat, kalte Füße bekommen und die Streichung der betreffenden Äußerung bewirkt.

Was hindert uns daran, uns in dieser Angelegenheit ein Vorbild an der Schweiz zu nehmen und unser Tierschutzgesetz entsprechend weiterzuentwickeln? Zwar befürchten manche Tierhalter wirtschaftliche Nachteile, die Schweizer Behörden sehen das aber gerade anders:

Für Marcel Falk vom Bundesamt für Veterinärwesen ist genau dies kein Widerspruch: "Tierschutz ist ein Verkaufsargument, wenn die Märkte sich öffnen." Heimtiere, Nutztiere oder Wildtiere � die neue Schweizer Tierschutzverordnung ist umfassend. Trotzdem geht sie Tierschützern nicht weit genug. Sie beanstanden lange Übergangsfristen: Die Bauern dürfen Schafe noch bis 2018 anbinden.

» a.a.O.




Zwangsausbildung

Auch hierzulande gibt es schon einen » Hundeführerschein, aber in der Schweiz ist er ab sofort Vorschrift, wenn man sich einen neuen Hund zulegt. Dabei spielt es keine Rolle, wie viel Erfahrung mit Hunden man schon hat. Auch für alle anderen Tierarten sollen sachgerechte Informationen systematisch vermittelt werden. Bei Pferden wird ab fünf Tieren ein Sachkundeausweis verlangt, und wenn man gewerbsmäßig mehr als elf Pferde hält, muß man eine Ausbildung mit einem theoretischen und praktischen Teil absolvieren.

Diese Forderungen sind bestimmt nicht unbillig und auch für die Tierhalter segensreich - viele unschöne Situationen und Begebenheiten entstehen sicher nur aus Unkenntnis und nicht etwa aus bösem Willen. Wenn nun solche Informationen erworben werden müssen, muß ein entsprechendes Angebot geschaffen werden. Das schafft sogar Arbeitsplätze. Die Inhalte und Ziele der entsprechenden Ausbildungen sind allerdings noch nicht ausformuliert. Bis zum 11. Juni gibt es noch Anhörungen, danach informiert die Behörde über ihre Internetpräsenz.



Konsequenzen

Wenn man sich einmal in diese Richtung bewegt, wird eine Dynamik entfesselt, der man sich nicht entziehen kann. Sobald man anerkennt, daß Pferde soziale Wesen sind, die aus der kargen Steppe kommen und ein starkes Bewegungsbedürfnis haben, kann man die entsprechenden Schlüsse schlecht abwehren. Wir haben oben schon erwähnt, daß Pferde täglich Bewegung haben müssen, wobei es so schien, als könne man alternativ zwischen freiem Auslauf und Bewegung durch Nutzung wählen. Die Einzelboxhaltung unserer extrem teuren Sportpferde würde bei dieser Lesart also durchaus beibehalten werden können. Nichts müßte sich ändern, denn diese Pferde werden ja täglich "gearbeitet" und "bewegt", wenn schon nicht durch Menschenhand, so doch durch Maschinen.

Die Schweizer erkennen aber das Dilemma:

Die mit der Aufstallung verbundene Bewegungseinschränkung ist deshalb für das Pferd schwerwiegend. Um trotzdem gesund zu bleiben, sollen alle Pferde möglichst oft freie Bewegung haben. […] Unter freier Bewegung ist eine selbstbestimmte Bewegung im Freien zu verstehen. Auch der Gebrauch durch den Menschen (reiten, fahren) oder das Führen an der Hand rsp. in der Führmaschine verschaffen dem Pferd Bewegung. Doch nur bei der freien Bewegung kann das Pferd nach eigenem Willen erkunden und sein Bewegungsbedürfnis sowie sein Komfort- und Sozialverhalten voll ausleben. Deshalb sollen sich auch ausgewachsene Pferde, die genutzt werden, an mindestens 13 Tagen des Monats frei bewegen können.

» Pferde richtig halten

So genau wird hier gerechnet: 13 Tage im Monat, nicht mehr und nicht weniger! Damit können sich die Besitzer nicht mehr herausreden: Der goldene Käfig ist passé.



Berichtspflicht

Allerdings muß man wegen der endgültigen Formulierung noch ein bißchen Geduld haben; an anderer Stelle schreibt das Bundesamt für Veterinärwesen:

Pferde müssen sich täglich ausreichend bewegen können - sei dies im Auslauf mit freier, ungehinderter Bewegung im Freien oder in Form einer Nutzung als Reit- oder Arbeitstiere. Führende Stuten und ihre Fohlen sowie Jungpferde oder andere, nicht genutzte Pferde, müssen täglich während mindestens 2 Stunden Auslauf haben. Genutzte Pferde müssen zudem an mindestens zwei Tagen pro Woche mindestens je zwei Stunden Auslauf erhalten.

Auslauf und Weiden müssen durch einen gut sichtbaren, ausbruchssicheren Zaun begrenzt werden. Die Pferde dürfen sich daran nicht verletzen können - so darf Stacheldraht für Pferdezäune und -gehege nicht verwendet werden.

Der Auslauf der Pferde muss in einem Journal eingetragen werden.

Dauernd im Freien gehaltene Pferde werden, müssen Zugang zu einem Witterungsschutz, einem trockener Liegeplatz, einem ausreichendem und qualitativ guten Futterangebot und frischem Trinkwasser haben. Ebenfalls wichtig sind eine gute Bodenqualität (nicht morastig, nicht erheblich mit Kot oder Urin verunreinigt) und eine regelmässige Überwachung der Tiere.

Übergangsfristen:
  • Das Verbot der Anbindehaltung gilt ab 2013.
  • Die neue Vorschriften für den Auslauf gelten ebenfalls ab 2013.
  • Das Verbot von Stacheldraht gilt ab 2010.
» Bewegen

Ungeachtet der Übergangsfristen finde ich interessant, daß der Auslauf der Pferde schriftlich dokumentiert werden muß. Nun ist Papier geduldig, entsprechende Aufzeichnungen können beliebig gefälscht werden. Das wissen die Schweizer sicher auch. Es ist vermutlich wie mit den Verkehrsregeln: Man muß sie kennen, man soll sie einhalten, nicht jeder Verstoß kann geahndet werden, aber im großen und ganzen funktioniert das System.



Eingriffe und Verbote

Wie andere Tiere dürfen Pferde nicht misshandelt oder unnötig überanstrengt werden.

Ausdrücklich verboten sind:

  • Das Verabreichen von Stoffen und Erzeugnissen zum Zweck der Leistungsbeeinflussung (Doping),
  • sexuell motivierte Handlungen mit Tieren,
  • das Kupieren der Schwanzrübe,
  • das Erzeugen einer unnatürlichen Hufstellung, das Verwenden schädlicher Hufbeschläge und das Anbringen von Gewichten im Hufbereich,
  • das Antreiben oder Bestrafen mit elektrisierenden Geräten,
  • der sportliche Einsatz von Pferden mit durchtrennten oder unempfindlich gemachten Beinnerven, mit überempfindlich gemachter Haut oder mit anderen schmerzverursachenden Hilfsmitteln,
  • das Entfernen der Tasthaare (Tasthaare sind Sinnesorgane!)
  • das Anbinden der Zunge.
» Eingriffe und Verbote

Es bleiben immer noch genügend Fragen im einzelnen (Was darf als "schädlicher Hufbeschlag" gelten?), aber einige Vorschriften können schon als echter Fortschritt gewertet werden, etwa die Feststellung, daß Schmerzausschaltung bei Lahmheiten den sportliche Einsatz ausschließen. Es ist ein Anfang und ein ermutigendes Zeichen. Ich bin mir sicher, daß die EU sich nun nicht lumpen lassen kann und nachziehen muß, was dann bekanntlich in sämtlichen Mitgliedsländern umgesetzt werden wird. Es ist alles nur eine Frage der Zeit.



Würde der Kreatur

Der Generaltitel dieses Editorials muß noch erläutert werden: Die Schweizer bleiben nämlich nicht bei den Tieren stehen, sondern haben sich auch Gedanken bezüglich der Pflanzen gemacht: Bravo! Auch Pflanzen sind Lebewesen

Dem Staatsauftrag Tierschutz (Art. 80 der Bundesverfassung; BV) wird seit 1992 durch den ebenfalls auf Verfassungsebene gewährten Schutz der kreatürlichen Würde zusätzliches Gewicht verliehen. Unter dem Titel "Gentechnologie im Ausserhumanbereich" schreibt die Bundesverfassung dem Gesetzgeber in Art. 120 Abs. 2 vor, Bestimmungen über den Umgang mit dem Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen zu erlassen, und dabei auch der Würde der Kreatur Rechnung zu tragen. Der Begriff geht auf den dänischen Philosophen Lauritz Smith (1791) und den Basler Theologen Karl Barth zurück, der 1945 die Ansicht vertrat, dass Tieren eine eigene und schützenswerte Würde zukäme. Nachdem der Kanton Aargau 1980 eine entsprechende Bestimmung in seine Verfassung aufnahm (§ 14), fand das Anliegen auf tier- und umweltschützerischen Druck hin zwölf Jahre später auch auf eidgenössischer Ebene Zustimmung und Eingang in das Regelwerk des Bundes. 1992 wurde die Vorlage über den Schutz der kreatürlichen Würde von rund drei Vierteln der Stimmenden sowie mit Ausnahme des Kantons Wallis von allen Ständen angenommen und als Art. 24novies Abs. 3 - dem heutigen Art. 120 Abs. 2 - in die Bundesverfassung eingefügt.

» Würde der Kreatur

An dieser verfassungsrechtlichen Revolution kann man die Dynamik des Faktischen gut studieren:

Die vom Bundesrat eingesetzte Expertengruppe aus Biologen, Philosophen, Theologen, Medizinern, Biologen und einem Juristen untersuchte die "Würde der Kreatur bei Pflanzen". Vor gut drei Wochen legte die Kommission ihren Bericht vor. Ihr Fazit: Sie bejaht die Würde der Kreatur bei Pflanzen und fordert die "moralische Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst Willen (sic!)". Als einziges Land der Welt gesteht die Schweizer Bundesverfassung allen Kreaturen, Tieren wie Pflanzen, eine Würde zu, die zu achten sei.

» Haustierhaltung nur noch im Doppelpack

Das sind Feinheiten und Konsequenzen, die sich aus der Schlagzeile nicht unbedingt erschließen. Zum Schluß: Die Schweizer Tierfreunde haben auch Humor: » Tierwitze

 
Chefredakteur und Herausgeber
 
 




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