DIE BALANCE DES PFERDES
ist neben dem Gefühl des Reiters für Balance die andere Komponente für das Zusammenspielen der Bewegungen von Reiter und Pferd. Einem jungen Pferd, das zum ersten Mal das Reitergewicht trägt, wird es beispielsweise kaum möglich sein, auf der Mittellinie ohne kleine Abweichungen nach beiden Seiten, also ohne Schwanken im Schritt zu gehen. Wenn man das weiß, dann wird einem klar, wie wichtig es für ein junges Pferd sein muss, in der Zeit des ersten Anreitens einen guten Reiter mit viel Gefühl für Balance auf seinem Rücken zu haben. Der Reiter muss seinem jungen Pferd helfen und viel Zeit lassen, mit dem Gewicht auf seinem Rücken in Balance zu kommen. Ohne schonende Stärkung jener Muskeln, die vor allem beim Tragen des Reiters die vorherrschende Rolle spielen, ist das nicht möglich.
Dein Gefühl für eigene Balance kannst Du auch zu Fuß verbessern, es gibt während des Tages genug Möglichkeiten dazu: Strümpfe und Jeans anziehen nicht auf dem Badezimmerhocker, sondern auf dem einen und auf dem anderen Bein balancierend. Auf Bordsteinkanten, Baumstämmen balancieren, so oft die Möglichkeit sich bietet; auf einem gekachelten Boden auf den sichtbaren Linien einen Fuß vor den anderen setzen ohne zu kippeln; längere Zeit mit ausgestreckten Armen auf einem Bein stehen, und so weiter und so weiter. Man muss nur die nötige Energie aufbringen, es auch zu tun! Deiner KORALLE zuliebe wird Dir das nicht schwer fallen.
Es gibt wahrscheinlich keinen Menschen, dessen Körper völlig symmetrisch ist und der sich auf gerader Linie völlig symmetrisch bewegt. Vielleicht hast Du es bei Dir selbst schon gesehen: Wenn Du auf einem Untergrund gehst, der das Profil Deiner Schuhe aufnimmt, dann wirst Du entdecken, dass Du mit einer Fußspitze weiter auswärts auffußt als mit der anderen, dass Deine Fußabdrücke nicht symmetrisch sind, weil Du Dich auch nicht symmetrisch bewegst. Nach der Seite, nach der Deine Fußspitze weiter nach außen gerichtet ist als die andere, wird auch Dein ganzer Körper etwas mehr gedreht sein. Und wäre das zum Beispiel nach rechts, dann wirst Du auch mit dem linken Bein immer die Tendenz haben, etwas weiter vorzutreten als mit dem rechten Bein oder umgekehrt wenn Dein Körper etwas nach links gedreht ist. Es verhält sich also mit Deinem Körper ganz genau so wie mit der Schiefe eines Pferdes, nur dass Dein Körper senkrecht auf zwei Beinen steht und Deine Schiefe in der Senkrechten weniger zu beobachten ist als beim Pferd in der Waagrechten.
Die Schiefe Deines Pferdes stört Deine Balance auf seinem Rücken kaum, die meisten Reiter nehmen sie nicht einmal wahr. Hingegen die Einwirkung Deiner Schiefe auf seinen Rücken stört Dein Pferd sehr deutlich, es muss sich Deiner Schiefe wohl oder übel unterordnen, sie �ertragen'. Das ist so, als hinge ein schwerer Rucksack nicht in der Mitte auf Deinem Rücken, sondern würde immer mehr nach einer Seite hängen. Kannst Du Dir in etwa vorstellen, welche Schwierigkeiten Du damit hättest, wenn Du das längere Zeit ertragen müsstest?
Werde Dir also zunächst erst mal Deiner eigenen Schiefe bewusst, Du weißt ja, wie Du sie sichtbar durch Deine Fußstapfen erkennen kannst. Und dann versuche sie zu bekämpfen, ohne Dich dabei steif zu machen und zu stark zu verdrehen. Beobachte Deinen Sitz im Schritt auf gerader Linie:
- Sind beide Beine gleich weit hinter den Pferdeschultern platziert; hängen beide Beine mit dem gleichen Gewicht in den Bügeln; spürst Du beide Sitzbeine gleich stark.
- Ist Dein Kopf gerade über den Schultern oder hast Du die Tendenz, ihn nach einer Seite zu neigen oder zu drehen?
- Stehen beide Hände beim geradeaus Reiten parallel rechts und links vom Widerrist Deines Pferdes oder neigst Du dazu, dass die rechte oder die linke Hand weiter vorne steht oder höher steht?
- Knickst Du in einer Hüfte ein und sind deshalb auch Deine Schultern nicht auf gleicher Höhe?
Erst wenn auch Dein Sitz mühelos ausbalanciert ist, kannst Du daran denken, mit Sitz und entsprechenden anderen Hilfen Dein Pferd gerade zu richten. Diese Hilfen und Lektionen wirst Du im Verlauf der nächsten Monate lernen müssen. Zunächst hast Du genug mit Dir selbst und Deiner eigenen Schiefe zu tun, um die grundlegenden Voraussetzungen zu schaffen, damit Du in der Lage bist, nicht nur Dein Pferd zu bewegen, sondern es auch auszubilden.
Daher wirst Du es sicher auch verstehen, wenn Dein Pferd bisher nur an der Longe oder beim Freilaufen galoppiert. Aber ich schrieb es in einem früheren Brief bereits: Wenn Dein Pferd unter Dir mal von sich aus in den Galopp fällt, dann lasse es ein paar Sprünge galoppieren. Nimm dabei etwas festeren Knieschluss, damit Du in einen leichteren Sitz kommst und Dein Pferd nicht im Rücken störst und versuche nur, durch halbe Paraden ein hohes Tempo zu vermeiden, damit es in den Ecken nicht ausrutscht. Bringe es mit freundlichen halben Paraden und vor allem mit beruhigender Stimme wieder zum Trab und Schritt zurück.
Bis zum nächsten Mal, macht's gut, Ihr beiden.
Quellen / Verweise
- › Junger Reiter - junges Pferd, Eine klassische Reitlehre in Briefform
› Ausgabe 437 · Teil 1 - › Arbeit an der Hand, Die ersten Schritte - eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 2
› Ausgabe 438 · Teil 2 - › Panikattacke - Schiefe - Übertreten, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 3
› Ausgabe 442 · Teil 3 - › Auf- und Absitzen - Leckerle, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 4
› Ausgabe 443 · Teil 4 - › Galopp an der Longe - Rückwärtstreten, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 5
› Ausgabe 447 · Teil 5 - › Die gute Hand und Schenkellage, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 6
› Ausgabe 448 · Teil 6 - › Der Sitz, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 7
› Ausgabe 455 · Teil 7 - › Anlehnung und ruhige Hand, Eine klassische Reitlehre in Briefform - Teil 8
› Ausgabe 456 · Teil 8 - › Motor spritzig zünden, nicht leiernd, Wendung um die Vorhand, Vorübung zum Schenkelweichen
› Ausgabe 461 · Teil 9 - › Diagonale Hilfengebung, Vorhandwendung in der Bewegung, Schenkelweichen
› Ausgabe 462 · Teil 10 - › Ausweichen auf dem Zirkel, Der richtige Sitz ist die Grundlage der Hilfen
› Ausgabe 464 · Teil 11 - › Klassische Ausbildung, ... heisst richtige und natürliche Ausbildung
› Ausgabe 465 · Teil 12 - › Sie will sich beschweren, Klemme nicht mit den Waden, Knien oder Oberschenkeln
› Ausgabe 470 · Teil 13 - › Leichttraben und Aussitzen, Halbe und ganze Paraden in der Arbeit an der Hand
› Ausgabe 471 · Teil 14
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Fotos
› Gudrun Schultz-Mehl
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