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Galeriebeitrag Ausgabe 96.09 · Kunstgeschichte
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Ich habe dann noch ein Gemälde von La Thangue gefunden, das einen  Bauernjungen zeigt, der mit seinem Taschenmesser einen Stecken beschnitzt. Das Gemälde heißt merkwürdigerweise 'Pflug-Junge', aber was mich interessierte: hier waren Maße angegeben.

Dieses Bild, das den Jungen von etwa der Mitte der Oberschenkel bis etwas oberhalb des Kopfes zeigt, ist 155 cm hoch, also gut lebensgroß. Ich nehme das als Indiz, daß ich mit meiner Vermutung über die Dimensionen unseres Gemäldes richtig liege. Der Maler hatte keine Angst vor großen Bildern, und seine Kunden offenbar ebenfalls nicht.

Ich finde schließlich eine  englische Ausstellung aus dem vergangenen Jahr mit Bildern von La Thangue und mehreren Kollegen, die deren Arbeiten in den geschichtlichen Zusammenhang stellen.

Als La Thangue erwachsen wurde, war die akademische Malerei schon seit langem an einem schwülstigen, sentimentalen, dem niedrigsten Publikumsgeschmack verpflichteten Tiefpunkt angekommen.

Wie immer in solchen Situationen formierte sich eine Gegenbewegung, aus der dann schnell mehrere wurden und im Laufe der Zeit dann die Moderne Kunst, wie wir sie im zwanzigsten Jahrhundert kennengelernt haben, die ihrerseits jetzt auch schon reichlich alt und Geschichte geworden ist.

La Thangue ging nach dem Studium nach Frankreich und kam natürlich in Berührung mit diesen Bewegungen. In Frankreich hatte es schon eine Entwicklung hin zum Realismus gegeben, bevor La Thangue geboren wurde. Inzwischen war dort der Impressionismus entwickelt worden und zur Zeit der Entstehung unseres Bildes schon wieder überholt.

Im Begleitblatt zur Ausstellung wird erläutert, daß La Thangue in Großbritannien zur Richtung der Fotorealisten gezählt wurde. Das wunderte mich, denn diese Sachen sind vom Fotorealismus ja denkbar weit entfernt.

Was Fotorealismus heißt, wurde erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, als die Maler Gemälde machten, die man von einem Foto selbst auf den zweiten Blick nicht mehr unterscheiden kann. (Eine Übersicht über Künstler des Fotorealismus im Internet  Artcyclopedia: Artists by Movement: Photorealism 1960's to 1970's.)

Wie dem auch sei, die Kritiker hatten etwas an seinem "kritischen" Realismus zu bemängeln, daß nämlich die Imitation der Fotografie häßlich und langweilig sei, und der Künstler nahm die Kritik an und änderte sich - man denke!

Unser Bild wird in diesem Zusammenhang zitiert und wie folgt charakterisiert: (frei übersetzt) " ... als Antwort auf diese Kritik begann La Thangue einen neuen Stil mit größerem Interesse an Erzählung und Pathos." So ist das also zu verstehen! Der Maler will keinen Schnappschuß zeigen, sondern belehren und erbauen!

Nanu: da war man doch gerade erst hergekommen, davon wollte man doch weg, oder?

Dort wird der Bauer übrigens als Arbeiter bezeichnet, der nach langen Jahren schwerer Arbeit auf dem Felde stirbt. Mit anderen Worten: dies ist kein freier Mann, dem der Acker und die Pferde und der Pflug gehören. Das wundert mich ebenfalls. Dafür ist dieser Mann eigentlich zu gut angezogen.

Der Nachsatz bemerkt, daß dieses Bild sein politisch ambitioniertestes war, in seinem Bezug auf die harte Brutalität der ländlichen Arbeit.

Donnerschlag! Davon kann ich nun gar nichts entdecken: Brutalität? Inwiefern ist ländliche Arbeit Brutalität? Und inwiefern ist das auf dem Bild sichtbar?

Ich glaube, hier gehen dem zeitgenössischen Kunsthistoriker und verbeamteten Museumsmacher die Pferde durch - um im Bilde zu bleiben.

Der Künstler fand offenbar Beifall mit seiner neuen Richtung und machte dort weiter, mit entsprechenden Erfolg: als Höhepunkt wird ein Gemälde bezeichnet (dort ebenfalls ohne Abbildung), auf dem eine Mutter dargestellt wird, die gerade entdeckt hat, daß ihre Tochter gestorben ist.

Diese herzergreifende Geschichte, die sich für einen Film natürlich viel besser eignet als für ein Gemälde (für einen Film aber ein bißchen kurz ist), wird noch unterstrichen, wie der Text bemerkt, durch einen Schnitter, den der Maler als Symbol für den Tod eingeführt hat.

Au weia! Das klingt ja wahnsinnig toll! Geradezu genial! Die Kritik und die Öffentlichkeit und die Fachleute waren begeistert. Das Gemälde wurde für die renommierte Tate Gallery angekauft. Damit wurde, so der Kommentar, die Reputation des Malers als wichtiger zeitgenössischer Künstler bekräftigt.

Nun würde man gerne wissen, wie lange die Tate Gallery dieses Meisterwerk in ihren heiligen Räumen gezeigt hat. Mit Sicherheit hängt es schon lange nicht mehr dort.

Offenbar sind die Themen in der Kunstgeschichte so wahnsinnig abgegrast, daß die Kunsthistoriker immer wieder Versuche machen, schwache Werke wieder hochzustilisieren. Damit werden sie keinen Erfolg haben. Immerhin haben unsere Augen seit damals einiges mehr gesehen.

Und was 'lernt uns das'? Man muß selber die Augen aufmachen und hingucken. Dann macht man seine Erfahrungen, die man überprüfen kann, und weiß Bescheid. Wer einem die Augen öffnet, findet Dank, wer einen in die Irre führen will, findet keinen Glauben.





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