Leserbrief › 799 zu Ausgabe › 174 30.07.02
Lieber Werner,
ich habe mich von den Links in Deinem Hauptartikel lenken lassen, bis ich mich bei dem Briefwechsel mit Kaplan ernsthaft gefragt habe, wie naiv diese Leute (beide Seiten) eigentlich sind.
Sie wollen die ("Menschen"-)Rechte für die Tiere etablieren, in dem Bewußtsein, sie könnten damit ein ganz "reines", ethisch sauberes Leben führen. Lediglich bei der praktischen Umsetzung gibt Kaplan zu, daß faktische Grenzen gesetzt seien (das Argument mit den Regenwürmern, von denen er eine leider nur begrenzte Zahl nach Regen von der Bordsteinkante rettet, damit sie nicht überfahren werden).
Wenn man schon radikal und konsequent sein wollte, dann müßte man doch wohl auch die Autos verbieten, die die Regenwürmer überhaupt erst in Gefahr bringen, oder die Straßen, die das Einbuddeln verhindern etc., oder?
Aber selbst die faktischen Grenzen scheinen für die Briefschreiberin (stellvertretend für die gesamte Tierrechte-Veganismus-Szene?) nicht zu existieren. Keine Ausbeutung und Gefährdung von nichtmenschlichen Tieren für menschliche Zwecke (besonders auch Ernährung) ist in ihrem Sinn zu akzeptieren.
Hat sie schon einmal gesehen, wie viele Kleinlebewesen/Tiere sterben bei der Getreideernte, von der ja auch sie sich ernährt? Hat sie schon einmal überlegt, wie viele Tiere von Autos (oder auch Zügen, Bussen etc.) überfahren werden - fährt sie nicht zur Arbeit ...? Ich muß mich zusammennehmen, um nicht von den vielen Menschen zu sprechen, deren Menschenrechte tagtäglich mißachtet werden (z.B. bei der Sojaernte...).
Ein ganz übles Feld tut sich auf (allerdings nicht auf den verlinkten Seiten), wenn (philosophisch) die Frage geklärt werden soll, mit welchem Kriterium die Hierarchie von Rechten, die bestimmten Lebewesen zuerkannt werden sollen, bemessen wird. Ist die Katze mehr wert oder die Maus, die sie frißt etc.
Dann wird, beispielsweise bei dem Philosophen Peter Singer, der der Vorzeigephilosoph bei den Veganern ist, die die Menschenrechte für die großen Menschenaffen fordern, ein neues Kriterium eingeführt: Nicht die Zugehörigkeit zu einer Gattung (bzw. zur Gattung Mensch) ist dann noch entscheidend, sondern die Zuschreibung von Person-Sein. Klingt erstmal so okay.
Da aber über den Person-Sein-Status nach Singer einige Merkmale - z.B. ein Bewußtsein für Vergangenheit und Zukunft - entscheiden, fallen plötzlich einige Menschen mit Schwerstbehinderungen aus dem Raster heraus ... Können wir das wirklich wollen?
Nicht, daß ich das grundlegende Anliegen nicht nachvollziehen könnte: Auch ich habe mit dreizehn Jahren entschieden, vegetarisch zu leben und tue es seither.
Natürlich stehe ich mit Eiern in periodischen Schüben auf Kriegsfuß - z.B. wenn ich sowas lese wie das Vergasen von männlichen Küken, dann entschiede ich, nur noch die Eier von Bekannten zu nehmen, bei denen sowas nicht geschieht ... bis mir klar wird, daß die einen Hahn haben, die Eier also befruchtet sein könnten usw. usw.
Viele, aber nicht alle Einsichten führen zu Verhaltenänderungen; insbesondere deshalb, weil mir tausende von anderen Sachen auch wichtig sind: der Nicht-Konsum von genmanipulierten Lebensmitteln - weniger aus Angst und mehr aus Prinzip -, keine Daunen, seit ich weiß, daß die Tiere bspw. in Polen bei großen Betrieben lebendig gerupft werden, nur Kaffee aus Transfair, keine Teppiche aus Kinderhand, kein Tropenholz und, und und
Ich darf mir nichts vormachen: Trotzdem werden meinetwegen Menschen ausgebeutet, Kinder mißbraucht (eher nicht sexuell), Tiere getötet... Ich bemühe mich redlich, schaue nicht weg, ABER ich zeige so selten wie möglich auf andere Leute!!!
Und ich halte mich für einen ethisch orientierten Menschen, nur daß ich keine Utilitaristin bin wie Singer und Kaplan, mir sind nicht die großen Nutzen wichtig, sondern das Individuum - Mensch und Tier. Und gleichzeitig fühle ich mich natürlich häufig schlecht, schuldig; weil ich nicht mal annähernd alles richtig mache!
Deshalb freut mich, daß Du die Ambivalenz dieses Themas in Deinen Artikeln deutlich gemacht hast und daß Du militantes Verhalten, Gewalt und diese ätzende Selbstgerechtigkeit vieler Tierschützer und Tierrechtler bloßstellst.
Herzliche Grüße Katinka und Tom
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