Diese Darstellung klingt einleuchtend, wird jedoch von Otto Rubner im Jahrbuch 2003 scharf angegriffen: » Der sächsische Phantast. Rubner betrachtet sämtliche bis dahin erschienenen Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit Karl Mays und kommt zu dem Schluß, daß dieser im wesentlichen gesund und voll zurechnungsfähig war.
| Im Rahmen der Konversionsneurose entwickelte er eine sehr erhebliche Fantasie, die in der Jugendzeit zu seinen einfallsreichen Delikten und später zu seiner schriftstellerischen Produktivität und zu der außerordentlich wirksamen Anschaulichkeit der von ihm beschriebenen Figuren und Handlungen führte.
» Der sächsische Phantast, Seite 59 | | |
Bezüglich der D. I. D. führt er aus, daß diese schon im Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben, dann aber in Vergessenheit geraten sei, weil es sich im Grunde um wissenschaftlich nicht nachvollziehbare Phänomene handele. Daß dieses Krankheitsbild Ende des 20. Jahrhunderts von amerikanischen Psychiatern wieder reaktiviert worden sei, hat für ihn keinerlei Relevanz, da der Gehalt an Wissenschaftlichkeit sich dadurch in keiner Weise geändert habe. Damit fällt für ihn die Argumentation von Thomas in sich zusammen und erscheint als beliebige Interpretation.
| Alle die Erscheinungen gehen in eine emotionelle und künstlerische Atmosphäre über. Übergreifend kann argumentiert werden, dass sowohl die Verfehlungen in den jungen Jahren als auch die Entwicklung im gereiften Alter und schließlich die differenzierten Phänomene seines Alterswerkes im Grunde genommen alles Durchgangsstadien ein und derselben Persönlichkeitsstruktur gewesen sind. Die mangelnde Abgrenzungsfähigkeit zwischen der konversionsneurotischen Fantasietätigkeit einerseits und der Realität andererseits dürfte der Charakter des gesamten Denkgefüges des Schriftstellers sein. Vielleicht liegt darin ein Teil der Faszination seines Erfolges, rührt von daher die Resonanz bei der Leserschaft, und vielleicht ist das auch ein Element der Versöhnung des Menschen Karl May mit seinen wissenschaftlichen Interpreten, die bei allen streng objektiven Untersuchungen mit einem Rest von Wertschätzung für den Fabulierer an ihre Aufgaben herangegangen sind.
» Der sächsische Phantast, Seite 60 | | |
Wenn ich diesen Satz richtig verstehe, meint der Autor, daß die Unfähigkeit, zwischen Phantasie und Realität streng zu unterscheiden, die eigentliche Faszination erzeugt. Dieses Argument überzeugt mich überhaupt nicht. Der von Rubner immer wieder benutzte Begriff der Konversionsneurose gilt laut Wikipedia als veraltet und steht in einem direkten Zusammenhang zum Krankheitsbegriff der Hysterie, der ebenfalls abgeschafft ist:
| Der Begriff "Hysterie" erscheint unter anderem deshalb problematisch, weil ihm eine pejorative Bedeutung anhaftet, die mit der vorgeblich geschlechterspezifischen Bindung zusammenhängt, weshalb man heute eher den Begriff "Konversionsstörung" für o. g. Symptome verwendet. Sehr lange wurde Hysterie sogar als eine ausschließlich bei Frauen auftretende, von einer Erkrankung der Gebärmutter ausgehende psychische Störung verstanden. Frauen, die unter Hysterie leiden, weisen diesem Krankheitsverständnis nach häufig bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf (ichbezogen, geltungsbedürftig, kritiksüchtig, unreflektiert etc.). Dies schlägt sich konkret noch heute in den Arzneimittelbildern der Homöopathie nieder.
» Hysterie | | |
Dieser Artikel ist übrigens sehr lesenswert und absolut schockierend. Damit sind wir aber im Grunde wieder bei der Charakterisierung Karl Mays als Hochstapler angelangt. Rubner formuliert es so:
| Es liegen also zusammenfassend bei Karl May Persönlichkeitsvariationen, Abweichungen von der Norm, teils erlebnis-, teils anlagebedingt vor. In der Jugendzeit dürften Gefühle von Unsicherheit und Minderwertigkeit vorhanden gewesen sein, zunächst mit mangelndem Selbstvertrauen. Sofern eine sehr starke Sensitivität vorlag, kam es einerseits zu einer erhöhten Eindrucksfähigkeit für Erlebnisse und andererseits zu einem übersteigerten Ehrgeiz und zu sensitiven Beziehungs-Reaktionen und schließlich auch zum Auftreten von Zwangseinfällen und Zwangsbefürchtungen, wie oben geschildert. Es drängten sich Bewusstseinsinhalte auf, die der Betreffende nicht los wurde, obschon er sie gleichzeitig als inhaltlich unsinnig beurteilte. Sie konnten, wie häufig bei jungen Menschen, vorübergehender Natur sein und waren es auch. Fernerhin sind bei May ausgesprochen deutlich geltungsbedürftige Symptome festzustellen, Konversionsstörungen als Ausdruck neurotischer Formen, manchmal ein Teil der eben geschilderten Symptome der so genannten dissoziativen Persönlichkeit. In diese Persönlichkeitscharakterisierung gehört unter anderem der hysterische Charakter, mehr scheinen zu wollen als man ist, der Wunsch zu übertreiben, renommieren, aufschneiden und prahlen bis zur Pseudologie. Dazu ist ein bestimmtes Maß einer erhöhten Einbildungskraft, eine fantasiereiche Gedankenwelt gegeben. Auch hatte May die Neigung zu einer Stimmungslabilität. » Der sächsische Phantast, Seite 59 | | |
Insgesamt scheint Rubner den Menschen und Schriftsteller May nicht besonders zu schätzen. Während Thomas sich über die Kriminalisierung seines verehrten Autors beklagt und diesen durch seine Diagnose gewissermaßen reinwaschen möchte (» Karl May wäre für NICHT SCHULDIG befunden worden), stellt jener ihn als vollverantwortliche schwache Persönlichkeit hin, von der anscheinend auch literarisch nicht viel zu erwarten ist. Sämtliche Äußerungen Karl Mays über sich selbst wertet er als Selbststilisierung, der keine objektive Erkenntnisqualität zukommen könne. Abschließend muß ich noch den Begriff der Pseudologie erläutern, der schon im zitierten Vortrag von Roxin verwendet wurde:
| Pseudologia phantastica bezeichnet in der Psychiatrie seit Anton Delbrück (1891) den Drang zum krankhaften Lügen und Übertreiben. Häufiger wird heute der Begriff "pathologisches Lügen" verwendet. Eine besondere Form der Pseudologia phantastica stellt das Münchhausen-Syndrom dar, bei dem der Patient körperliche Beschwerden erfindet und durch Lügen untermauert, um Aufmerksamkeit in Krankenhäusern zu bekommen. In der modernen psychiatrischen Klassifikation ist die alte Bezeichnung als Symptom in der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.8) aufgegangen.
» Pseudologie | | |
Wie es aussieht, können die Mediziner uns bei der Erklärung der Faszination, die von Karl May ausgeht und die auch Heidi Keppel ausdrücklich betont hat, nicht helfen. Hinsichtlich der Erlebnisqualität beim Reiten dürften uns die Mediziner ohnehin nicht weiterhelfen können. Oder doch? Haben Sie schon einmal von "Flux" gehört?
Was das mit dem Reiten zu tun hat und was Karl May in mir und anderen angerührt hat, was er selbst im Alter als seine eigentliche Botschaft bezeichnete, hoffe ich in der nächsten Woche abschließend referieren zu können.
Quellen / Verweise
- » Karl-May-Gesellschaft e.V.
- » Karl-May-Stiftung
- » Barbara Siebert: "Ich saß so ruhig im Sattel wie auf einem Stuhl", Pferde, Reiten und die Reitkunst im Werk von Karl May
- › Wer stoppt Hempfling?
- › Ihr wißt nicht, was Liebe ist
- › Scharlatan oder Visionär?
- › Gefährliche Sekte?
- › Außergewöhnliche Verbindung
- » Sabine Birmann
- › Genie
- › Heidi Keppel
- › Tip
- › Leserbrief 1970
- » Carl-Heinz Dömken
- » Dömken, Carl-Heinz: Ich duze alle Pferde. Ein Pferdebuch.
- » Claus Roxin
- » Et in terra pax / Und Friede auf Erden!
- » Alexander Avenarius
- » Karl May, der unverstandene Triviale
- » Lederstrumpf-Romane
- » James Fenimore Cooper
- » Karl May und die �Dissoziative Identitätsstörung�
- » Der sächsische Phantast, Eine Pathografie Karl Mays
- » Hysterie
- » Karl May wäre für NICHT SCHULDIG befunden worden
- » Pseudologie
- › Mit Pferden auf Du und Du, Über die Seelenverwandtschaft
› Ausgabe 440 · Teil 1 - › Die Sehnsucht nach Pferden, Karl May und die Wundertiere
› Ausgabe 441 · Teil 2 - › Karl May als Pferdeflüsterer, Superman-Phantasien im Sattel
› Ausgabe 444 · Teil 3 - › Hochstapler unter sich, (Chief) Buffalo Child Long Lance - wer?
› Ausgabe 445 · Teil 4 - › Superman-Phantasien, (Über-)Lebenshilfe für Jedermann
› Ausgabe 446 · Teil 5
| |
Fotos
wie angegeben
| |