Derart eingestimmt, starteten wir dann mit dem tatsächlichen "Stoff", und zwar mit einem Kurzexkurs ganz am Anfang, vor 60 Mio. Jahren beim fuchsgroßen Hyracotherium (früher Eohippus genannt), das vorn noch auf 4 und hinten auf 3 Zehen lief (» "Horsing Around" with Evolution, » Die Geschichte des Pferdes, » Evolution der Pferde).
Die Entwicklung lief über einige Zwischenstadien, bis das seit 4 Mio. Jahren im wesentlichen unverändert aufgebaute Equus entstanden ist, "unser" Pferd. Dessen Hufe, mit das lebenswichtigste Organ, sind die Spitzen der mittleren Zehen. Um diese Zehen geht es jetzt die nächsten 9 Stunden im Seminarraum, und den ganzen dritten Tag, dem Praxistag, draußen im Hof.
Wir sehen den Aufbau der Zehenglieder, in Form von Schnitten, der Knochenanordnung und in der Außenansicht. Im Längsschnitt und auf Röntgenbildern aus einem bestimmten Winkel schaut das Hufbein wie ein nach unten gerichteter Keil aus, tatsächlich ist es offen, halbmondförmig in der Untersicht, und hat Äste, deren Unterkante in richtiger Stellung parallel zum Boden liegen.
Pferdebeine und -hufe sind ein Wunder der Evolution: Pferde können mit ihnen einerseits ohne Muskelanspannung im Stehen schlafen und andererseits ihre 400-500 kg mit der Beschleunigung eines Sportwagens vorwärtskatapultieren, bis auf 90km/h bei Rennpferden. Welche Masse hier mit wie wenig Aufwand bei welcher Dynamik bewegt werden kann! (Auch wenn vielleicht manche denken, "Dynamik, bei meinem faulen Socken?" - sie können, wenn sie wollen...)
Allein eine Beugesehne kann eine Belastung von Tonnen aushalten, bei einer reversiblen Dehnfähigkeit von 7%. Dabei hat sie vielleicht 2cm² Querschnittsfläche. Wer kennt eine High-Tech-Kunstfaser, die diese Eigenschaften aufweist und dabei 30 Jahre lang hält? Stundenlang ist den Pferden damit möglich, 20% oder mehr seines Eigengewichts auf dem Rücken zu tragen, auch im Galopp und über Sprünge, oder das Mehrfache seines Eigengewichts zu ziehen.
Die Hufe fungieren als Kreislaufpumpe, als Tastorgan und Stoßdämpfer und sind gleichzeitig Ausscheidungsorgan für Eiweißketten, wobei diese nicht wie mit Urin oder dem Mist einfach abgegeben, sondern zu lebenswichtigem Horn verbaut werden.
Mit den Hufen kann sich das Pferd im Boden festkrallen, -keilen oder -saugen, je nach Untergrund - sofern man ihm die Möglichkeit dazu gibt.
Wie komplex, sensibel und fein aufeinander abgestimmt die Teile von Zehe und Huf sind, wie leicht das Gefüge gestört und wie regenerationsfähig es trotzdem ist, kann und will ich hier nicht weiter ausbreiten. Das gleiche gilt für die Vorgänge in kranken Hufen und bei Stellungsfehlern, Analyse von Thermografien, Sektionen und die eindrucksvollen Videos über Bewegungsabläufe. Darüber hat Frau Dr. Straßer mehrere Bücher geschrieben und zudem gibt es die Hufseminare, in denen es perfekt erklärt wird.
Seminare - seminaristischer Unterricht- ist das nicht Schnee von gestern? Ist das nicht ermüdend, wenn immer einer redet und die anderen zuhören, vielleicht mit ein paar verstreuten Fragen, wie früher in der Schule?
Mitnichten: Zum einen ist der Stoff komplex und spannend, weil die Zusammenhänge logisch lückenlos ineinanderpassen, zum anderen wird er von Chris Gehrmann lebendig rübergebracht, mit Enthusiasmus, verständlich und eindringlich. Es gibt reichlich Muster, Präparate und Modelle, die durchgereicht werden und die Sache plastisch werden lassen.
Die verschiedenen Videosequenzen innerhalb der Präsentationen machten das Ganze zusätzlich lebendiger, zum Beispiel die Vorgänge in der ganzen Zehe während des Abfußens in Schnittdarstellung, vor und nach einem Steilstellen, die Mustangs, die barfuß einen Abhang mit Felsbrocken runtergaloppieren (wo wir uns beim Führen unserer armen Hauspferde selbst die Beine brechen würden), die verwilderten Trakehner in der Namib-Wüste, Sequenzen von Reitweisen und deren Diskussion.
Was mich ein bisschen wunderte, aber das habe ich schon in vielen Seminaren zu verschiedensten Themen nicht verstanden, war die tatenlose Aufnahme des Stoffs. Tatenlos insofern, daß bis auf wenige Ausnahmen keiner Notizen machte. Ich hätte diese Fülle an Informationen, und das meine ich im positiven Sinn, nach spätestens einigen Tagen nicht mehr fehlerfrei zusammenpuzzeln können und ich habe mich schon recht intensiv mit dem Thema befasst. Abends war ich trotzdem reichlich abgefüllt mit neuen oder neu verstandenen Informationen. Darum denke ich, daß ein Neueinsteiger in die Materie noch mehr gefordert sein dürfte.
Vielleicht haben wir hier einen Ansatz, warum die Methode Straßer so umstritten ist?
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