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Editorial zu Ausgabe 486

 
W. Popken im Fenster
Selbstportrait 08/2004
 
 
20.07.2008

Videos

Wiederholt habe ich in meinen Artikeln die Vorzüge von Fotos gegenüber dem bewegten Bild herausgestrichen. Das gilt insbesondere für sehr schnelle Bewegungsabläufe, für die unser Auge einfach nicht schnell genug ist, um sie wirklich erfassen zu können.

Das bewegte Bild hingegen kann bewegen, insbesondere nämlich wenn es um etwas geht, das sich in der Zeit ausdehnt und entwickelt und ausbreitet - die Entwicklung der Zeit ist dem Standbild naturgemäß verschlossen. So habe ich zum Beispiel auf Videos verwiesen, die die Atmosphäre beim nationalen Shetland Pony-Rennen in England vermitteln können. Das wäre mit einem Foto oder auch einer Reihe von Fotos zwar auch möglich, aber nicht so überzeugend und nicht wirklich authentisch, weil die Phantasie des Betrachters hinzutreten muß, um die zeitliche Abfolge rekonstruieren zu können.



Stierkampf

Das Leiden der Kreatur im Stierkampf, die Hohlheit der Befürworter dieses Rituals, die ungeheure Grausamkeit einem fühlenden Mitgeschöpf gegenüber wird erst richtig deutlich, wenn man die zeitliche Dauer des Martyriums miterleben und miterleiden muß. Man hält es nicht aus, man mag nicht mehr hinschauen - und man bekommt den Eindruck, daß auch die Beteiligten sehr unangenehm berührt sind.

Das entspricht nicht den Vorstellungen des kundigen Publikums. Wenn der Matador dem nach allen Regeln der Kunst geschwächten Stier schließlich den Degen zwischen die Schulterblätter stößt, soll der Stier nach Möglichkeit schnell zusammenbrechen. Zwar wird er davon nicht sofort sterben - das besorgt der Puntillero mit einem Genickstich. Bricht der Stier nicht zusammen, versuchen die Toreros ihn abzulenken und zu Bewegungen zu verleiten, die seine inneren Verletzungen verstärken und den Zusammenbruch herbeiführen. Wenn das nicht gelingt, wird es peinlich. Das Leiden des Stiers zieht sich hin und ist vollends sinnlos geworden.



Rituale

Mit der Bezeichnung Ritual und der Beschwörung des Alters dieser Veranstaltung, der angeblichen Verwurzelung in der Bevölkerung und tiefer Gefühle aller Beteiligten wird eine Art Unangreifbarkeit konstruiert, die eine unangenehme Ähnlichkeit zu vergleichbaren Rechtfertigungsversuchen anderer barbarischer Bräuche aufweist. Die Absurdität solcher Begründungen wird deutlich, wenn man den Spieß umgedreht:

"hacken wir doch den Dieben wieder die Hände ab und verbrennen rothaarige Frauen, vor 1.000 Jahren war das ja auch noch gängige Praxis"...

» Werden Sie aktiv gegen STierquälerei!

Auch bei einem Ritual muß man sich fragen, was es bewirkt, welche Intentionen damit verbunden sind, welchen Preis es kostet. Ein Kennzeichen unserer Zeit dürfte sein, daß überall Grenzen eingerissen werden. Es scheint bald keine Tabus mehr zu geben. Ein Tabu beruht auf einer Übereinkunft - bestimmte Dinge tut man nicht, sagt man nicht, denkt man nicht. Was aber, wenn alles dies nicht mehr gilt?



Freiheit der Kunst

Die Moderne Kunst könnte geradezu dadurch definiert werden, daß ständig Tabus gebrochen werden. Es gibt nichts, was man nicht im Namen der Kunst machen dürfte.

"...die durch aktionen bewirkten sinnlichen sensationen, welche nach überwindung der zensuren enthemmen und berauschen, die aktionen mit rohem fleisch, feuchten leibwarmen gedärmen, blutigem kot, schlachtwarmem blut, lauem wasser usw. bewirken regressionen in richtung zur analsinnlichkeit. die freude am plantschen, spritzen, schütten, beschmieren, besudeln steigert sich zur freude am zerreissen des rohen fleisches, der freude am herumtrampeln auf den gedärmen. die dionysische zerreissungssituation zeigt sich (der zerrissene abreaktionsgott dionysos gelangt ins assoziationsfeld). das dramatische wühlt sich in die freude an der grausamkeit." Zitat Hermann Nitsch

zitiert nach: » Kunst oder KRANK?

Und keiner erhebt sich und sagt: "Der Kaiser ist ja nackt!" Im Gegenteil, alle Kunst- und Kulturverständigen beeilen sich, den Wert dieser Kunst, die ja zweifellos Tabus bricht und Grenzen einreißt, zu beschwören, und alle "Ungläubigen" als Banausen zu diskreditieren. Es ist nicht leicht, auf der Höhe der Zeit zu sein.

 
Chefredakteur und Herausgeber
 
 




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