Indien
Indien Indischer Prinz zu Pferde um 1775
"Dieses Bild stammt aus Bundi in der Provinz Rajasthan im Norden Indiens. Das abgebildete Vollblutpferd ist so leicht und elegant, daß es schwerelos durch die Luft zu schweben scheint."
aus dem Buch Pferde mit freundlicher Genehmigung des Taschen-Verlags siehe auch Rezension
Kommentar Von Werner Stürenburg
In den letzten Woche haben wir uns mit einem Kriegsbild beschäftigt. Die Malerin hatte sich auf militärische Bilder spezialisiert. Die Faszination dieses Bildes auch in unserer Zeit hatte zu der Einsicht geführt, daß Pferde auch für den Menschen etwas ausdrücken, und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß Pferde auch für die Sexualität des Menschen bedeutsam sind.
Dieses Bild eines indischen Prinzen zu Pferde möchte ich zum Anlaß nehmen, auf eine Beobachtung hinzuweisen, die bei vielen der Bilder aus allen möglichen Kulturen und Zeiten, die in dem Buch Pferde zusammengetragen sind, gemacht werden kann.
Diese Beobachtung betrifft die Zähne und das Geschlecht der Pferde.
Realität
Anläßlich der Zeichnung Stute und Fohlen hatten wir festgestellt, daß der Galopp fast immer falsch dargestellt worden ist.
Da man diesen sehr schlecht beobachten kann, mag ein solcher Fehler verzeihlich sein, und nachdem wir alle durch die Errungenschaft der Fotografie wissen könnten, wie die Bewegungsfolge wirklich aussieht, muß man es der Ignoranz der Künstler zuschreiben, wenn die alte Konvention weiter benutzt wird.
Was aber die Zähne und das Geschlecht anbetrifft, so gibt es keine Entschuldigung. Hier kann man unschwer klare Beobachtungen treffen. Wenn also Freiheiten vorkommen, dann stehen diese eindeutig im Dienste der Botschaft. Der Künstler geht mit der Wirklichkeit frei um, um durch seine künstliche Wirklichkeit neue Realitäten zu schaffen.
Ich weiß nicht mehr, wo ich es gelesen habe, obwohl es erst ein paar Tage her ist: da beschrieb jemand, daß er in Wien vor 50 Jahren Chinesen im Museum geführt hat. Insbesondere hat er die Schätze des Barock gezeigt. Die Chinesen fanden die Darstellung vollkommen unrealistisch.
Nachdem der Berichterstatter gehörig irritiert war, zog er nach längerem Nachdenken folgenden Schluß: in der chinesischen Kultur verwendet man keine Perspektive. Entfernungen und räumliche Zusammenhänge werden anders dargestellt als bei uns. Wir haben uns seit der Renaissance, also seit etwa 1000 Jahren, daran gewöhnt, perspektivisch zu sehen.
Diese Sichtweise muß genauso gelernt werden wie die chinesische. Beide Sichtweisen liegen nicht auf der Hand. Bezüglich der Perspektive ist das einleuchtend, denn sonst hätte es nicht so lange gedauert, die Perspektive zu entdecken. Die Griechen, die ansonsten nicht auf den Kopf gefallen waren und wesentliche Gedanken der europäischen Kultur schon vor 2000 Jahren gedacht haben, sind nicht auf die Perspektive gekommen.
Insofern ist es also letzten Endes vollkommen irrelevant, wie Pferde wirklich galoppieren, solange jedermann das Zeichen für galoppierendes Pferd eindeutig lesen kann. Wenn man also heute für eine Firma ein Logo entwickeln will mit einem galoppierenden Pferd, könnte man sich fragen, welche Lesart besser verstanden wird: die falsche oder die richtige?
Die richtige Lesart ist recht ungewöhnlich und bringt die Dynamik und urtümliche Gewalt des Galopps nicht so gut zum Ausdruck wie die falsche. Gerade bei Firmenlogos kommt es aber darauf an, Gefühl zu wecken und Signale zu senden, die ohne Erklärung verstanden werden. Vielleicht achten Sie einmal darauf, wenn Sie das nächste Mal ein galoppierendes Pferd als Logo sehen. Sie werden sowohl richtige als auch falsche Darstellungen finden.
Symbole
Diese Überlegungen bezüglich der Aussagekraft von Symbolen sind natürlich auf alles andere auch anwendbar. So ist sicherlich den meisten schon aufgefallen, daß die Griechen gerne nackte Menschen dargestellt haben. Genauer gesagt: am liebsten nackte Männer.
Wer einmal in der Sauna war und den Vergleich mit dem Museum anstellt, kommt um die Feststellung nicht herum, daß die Griechen die männlichen Geschlechtsteile entschieden zu klein dargestellt haben. Zwar sind diese in der Größe sehr unterschiedlich, aber wenn es um die Realität gegangen wäre, hätten dann auch unterschiedlich große Organe dargestellt werden müssen.
Das ist aber nicht der Fall. Diese griechische Konvention haben die Renaissancekünstler übernommen. So haben zum Beispiel der berühmte David von Michelangelo oder auch sein Adam ausgesprochen kleine Geschlechtsteile, die etwa einem achtjährigen Jungen, der vor der Geschlechtsreife steht, angemessen sind.
Ganz anders wiederum die Japaner. Die erotischen Holzschnitte sind inzwischen auch im Westen hinreichend bekannt. Da wiederum fällt auf, daß die männlichen Geschlechtsteile außerordentlich groß dargestellt sind.
Ausschnitt aus: Rembrandt, Polnischer Reiter
Bekanntlich wird das männlichen Geschlechtsteil mit der Erektion erheblich größer, die von den Japanern dargestellte Größe, die der eines Unterarms nahekommt, ist jedoch vollkommen unrealistisch.
Im Westen hat man sich irritiert gefragt, was die Absicht hinter dieser Verzerrung sein mag. Es wurde vermutet, man wolle den jungen Mädchen damit die Angst vor den wirklichen Größenverhältnissen nehmen, indem man zunächst einmal gehörig übertreibt. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein.
Das Geschlechtsteil eines männlichen Pferdes, der sogenannte Schlauch (ein unglaubliches Wort), ist in ausgefahrenem Zustand außerordentlich beeindruckend und unschwer zu beobachten. Als ich das erste Mal dieses Bild gesehen habe, war ich vielleicht fünf oder 6 Jahre alt.
Ein ganz kleiner Zirkus war in unser ebenfalls ganz kleines Dorf gekommen. Der Zirkus hatte auch ein Shetlandpony, und dieses Pony ließ seinen Schlauch raushängen. Der reichte fast bis zum Boden. Dieses Bild steht mir heute noch vor Augen. Ich war sehr irritiert, wußte intuitiv, daß dieses Bild etwas sehr Wichtiges zeigte, wonach ich aber niemanden fragen konnte. Es handelte sich um ein Geheimnis, um ein geschlechtliches Geheimnis.
Das Geschlecht
Ich habe bisher noch keine Abbildung dieses Zustandes gesehen. Das ist offenbar nicht kunstwürdig. Es gibt ein frühes Video von Hempfling, wo er seine magischen Künste demonstriert, und zwar führt er einen Hengst, mit dem das spanische Militär nicht mehr klarkommt, im Hof herum.
Ausschnitt aus Polospiel
Erschwerend kommt hinzu, daß offenbar rossige Stuten anwesend sind. Der Hengst hat ausgeschachtet, was ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, und es war sehr beeindruckend zu beobachten, wie Hempfling es fertigbrachte, daß der Hengst sich trotzdem auf ihn bezog.
Es ist aber nicht so, daß in der Kunst das Geschlecht keine Rolle spielen würde. Im Gegenteil. In den meisten Abbildungen wird sehr deutlich vorgeführt, daß es sich um einen Hengst handelt. Selbst das Einhorn ist ein Hengst.
Im Rasseporträt Andalusier haben wir gelesen, daß in Spanien ausschließlich mit Hengsten gearbeitet wird. Die Barockszene in Deutschland bevorzugt auch Hengste, wie wir aus dem Bericht über Ruth Giffels entnehmen konnten.
Otto Normalverbraucher ist froh, wenn er einen Wallach bändigen kann. Stuten gelten als zickig, auf jeden Fall als unberechenbar, je nachdem in welchem Stadium ihres Zyklus sie sich befinden. Hengste gelten als schwierig und werden im Regelfall in Einzelhaft gehalten (siehe z. B. Bericht Heeke und im Gegensatz dazu den Bericht Frers).
In der Kunst muß es ein Hengst sein. Selbstverständlich ist dieser Hengst vollkommen brav und unter Kontrolle. Er symbolisiert die Potenz und männliche Kraft seines Reiters und Besitzers. Das ist nicht weiter schwierig zu verstehen. Auch dieser Reiter und Besitzer hat seine Potenz unter Kontrolle, kann sie aber jederzeit nach Belieben einsetzen.
Heute fährt man einen Porsche. Genau dieselbe Geschichte: man hat reichlich Potenz, alles unter Kontrolle, und kann sie beliebig einsetzen. Ob das im modernen Straßenverkehr tatsächlich realistisch ist, steht doch sehr in Frage, aber darum geht es nicht. Es geht um Symbole, und dafür kann man ruhig ein paar Mark ausgeben. Wem ein Porsche zu zahm ist, der kann sich dann einen Ferrari holen.
Wie in der Malerei ist es auch in der Realität: Die beunruhigenden Aspekte der Geschlechtlichkeit werden weggeschnitten (Wallache) oder unterdrückt (Hengste in Einzelhaft). Im Bild muß es ein Hengst sein, aber er ist domestiziert. Nur die Motorradfahrer lassen uns erschrecken, wenn sie sich finster vermummen.
Bei Picasso sind die Pferde übrigens immer weiblich, wie wir gesehen haben. Der Stier ist das männliche Symbol, dessen Geschlechtlichkeit mit mächtigen Hoden deutlich herausgestellt wird. Im Zusammenhang mit der Symbolik der Stierkampfs konnten wir diese Zuschreibung nachvollziehen.
Zahnsymbolik
Es bleiben die Zähne. Bekanntlich hat ein Pferd riesige Zahnlücken. Das hat sich der Mensch schon früh zunutze gemacht und in diesen Zwischenraum allerhand Gebisse gelegt, die neuerdings schwer in Verruf geraten.
War es bis vor kurzem noch Gesetz, daß Pferde ohne Zaumzeug gar nicht gebändigt werden können, werden wir nicht nur vom Gegenteil belehrt - Gebisse sollen außerordentlich schädlich und kontraproduktiv sein. Welche heute noch ehernen Gesetze mögen wohl in Zukunft fallen?
Die Zähne also und die Zahnlücken sind den Menschen schon früh aufgefallen und haben zu der entsprechenden Nutzanwendung geführt. Dabei sieht man die Zähne des Pferdes normalerweise gar nicht. Manch einer hat auch seine Probleme, dem Pferd das Gebiß zwischen die Zähne zu schieben, weil dieses partout sein Maul nicht aufmachen will.
In der Kunst aber laufen die Pferde ständig mit offenem Maul herum, mehr noch: sie blecken die Zähne in jede Richtung.
Und nicht nur das: sie haben oft ein vollständig menschliches Gebiß. Die Zähne reihen sich aneinander wie Perlen, für ein Gebiß bleibt gar kein Platz.
Ganz deutlich bei unserem indischen Bild und beim Einhorn, aber auch beim Schlachtengemälde - und selbst bei Leonardo kann man sich streiten.
Diese Darstellungsweise kann nicht auf nachlässiger Beobachtung beruhen. Die Zähne eines Pferdes sind ohne viel Mühe zu untersuchen. Was also steht hinter diesem "Fehler"?
Offensichtlich bekommt das Pferdemaul etwas ausdrücklich Menschliches. Das Pferd reflektiert die Absichten und Gefühle seines Menschen. Das Pferd wird ein Spiegel.
Selbst in der großen Kunst liegt das auf der Hand. Leonardos Gäule in der Schlacht von Anghiari kämpfen genauso engagiert und verbissen wie die Reiter - was natürlich vom realistischen Standpunkt aus gesehen vollkommener Unfug ist. Und sie setzen dabei ihre Zähne ein.
Ausschnitt aus Rubens, Kopie nach Leonardo
Picasso setzt zwar das typische Gebiß des Pferdes ein, wie ausführlich im Beitrag über Guerníca dargestellt. Er stellt aber damit Gefühle des Menschen dar, nicht etwa die des Pferdes. Das Pferd bin ich. Das Pferd ist für Picasso Träges des Leidens. Es ist aber natürlich ein menschliches Leid.
Die lückenhafte Anordnung der Pferdezähne wird von Picasso benutzt, um über die Assoziation mit einem lückenhaften menschlichen Gebiß die emotionale Intensität zu erhöhen. Menschen mit Zahnlücken lassen den Mund lieber zu, denn der Anblick erschreckt zu sehr.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß unsere Autos auch Gesichter haben und die Zähne fletschen?
Picasso: Studie für Guerníca
Eine Zeitlang haben die Autodesigner versucht, vom Gesichtscharakter wegzukommen. Das war offenbar nicht so gut, denn jetzt haben alle Autos wieder ein deutliches Maul und dicke Augen.
Karikaturisten und Comiczeichner nutzen das gerne aus. Walt Disney beherrscht die Technik, ein Auto lebendig werden zu lassen, aus dem Handgelenk. Das Auto, ein Wesen wie du und ich.
Der Mittelpunkt
Wenn wir also hingehen und unsere Autos aufmöbeln, drücken wir damit etwas über uns selbst aus. Da liegt es doch nahe, daß wir ebenfalls etwas über uns selbst ausdrücken, wenn wir unsere Pferde dazu bringen, sich so oder so zu verhalten.
Ausschnitt aus: Butler, Schottland auf ewig Im Gegensatz zur sonstigen peniblen Darstellungsweise sind die Zähne hier summarisch dargestelt, wie ich das z.B. bei Asterix erinnere.
Ein Barockreiter, der sein Pferd imponieren läßt, imponiert also selber. Dasselbe trifft natürlich auch auf den Westernreiter zu, der sein Pferd von jetzt auf 100 beschleunigt und dann mit quietschenden Reifen zum Stehen bringt.
Womit wir wieder bei den Autos und Motorrädern sind. Oder genauer gesagt: bei uns. Es dreht sich alles immer nur um unser armes, kleines Ich. Mehr haben wir nicht.
Jeder ist in seinem Körper gefangen und bringt seine Seele zum Ausdruck. Thomas Mann hat das sehr schön geschildert in seinem Roman "Joseph und seine Brüder".
Der junge Joseph war überheblich. Nachdem seine Brüder ihren Zorn nicht mehr beherrschen konnten und ihn in die Sklaverei verkauft haben, ist er einsichtig. Sein Besitzer findet ihn aber trotzdem hochmütig, weil er alles auf sich bezieht.
Da erklärt er ganz bescheiden, daß ihm gar nichts anderes übrigbleibt. Selbstverständlich ist er der Mittelpunkt der Welt, aber das ist jeder andere gleichermaßen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als der Mittelpunkt der Welt zu sein, weil wir nicht aus unserer Haut können.
Ausschnitt aus: Rembrandt, Polnischer Reiter Die Zügel werden locker gehalten, das Pferd hat keinen Anlaß, die Zähne zu fletschen - es sei denn, die Entschlossenheit des Reiters, der in den Krieg zieht, zu verdeutlichen.
Indem wir sind und handeln, erfahren wir uns selbst. Wir erfahren uns im Miteinander, wir erfahren uns mit Pferden, wir erfahren uns mit Autos. Wir können nichts anders als uns zum Ausdruck bringen und uns gleichzeitig damit erfahren. Dazu dient unter anderem auch die Kunst.
Die japanische Firma Oki, die über ihre Drucker weltbekannt geworden ist, hat einmal Werbung gemacht mit einem Ausspruch eines zeitgenössischen Psychologen. Paul Watzlawik hat bemerkt: "Man kann nicht nicht kommunizieren." Oki wollte sich damit als Kommunikationsexperte hinstellen.
Die Beobachtung Watzlawiks ist trivial und trotzdem schwer zu sehen. Zen-Meister versuchen, diese Nicht-Kommunikation trotzdem zu realisieren: Mu heißt weder-noch, unbestimmt. Für uns Westler schwer zu verstehen. Wir leben im Schwarz / Weiß.
Picasso: Studie für Guerníca Siehe auch die anderen Abbildungen dort, die deutlich menschlichere Züge tragen.
Eine Abwandlung lautet: "Man kann nicht nicht erfahren." Was immer ich also tue: ich kommuniziere, d. h. ich signalisiere den anderen etwas über mich, bewußt oder unbewußt, und ich erfahre auch etwas, und zwar über mich, denn anders ist Erfahrung gar nicht möglich.
Und so dienen denn auch die Autos und die Pferde ganz selbstverständlich dazu, uns selbst auszudrücken und zu erfahren. Zeige mir dein Auto / Pferd, und ich sage dir, wer du bist. Gib mir dieses Pferd / Auto, und ich erfahre, wer ich bin.
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