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Editorial zu Ausgabe 484 | ||||||||||||||||||||||||
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Engel Wie immer, wenn ich das Gefühl habe, nicht wirklich zu wissen, worum es geht, befragte ich die Wikipedia zum Thema » Engel und meinte anschließend, besser Bescheid zu wissen. Engel tauchen das erste Mal vor etwas über 4000 Jahren in Mesopotamien auf und haben sich von da aus über die ganze Welt verbreitet. Es ist offenbar eine schöne Vorstellung, aber vollkommen aus der Luft gegriffen. Damit haben wir Menschen aber gar keine Schwierigkeiten. Wir können sehr gut mit Vorstellungen umgehen, denen wenig oder gar keine Substanz zukommt. Im Gegenteil, das Leben wird immer abstrakter. Geld beispielsweise wird immer weniger konkret. Bald werden wir nur noch mit dem Handy bezahlen oder mit der Karte und Bargeld wird aus unserem Leben verschwinden. Wird Geld deshalb weniger real? Mitnichten. Warum also sollten Engel nicht real sein? Vielleicht kann man sogar ein gutes Geschäft daraus machen? Wäre das nicht ein vorzüglicher Beweis für deren Realität? Engeltherapie Unsere moderne Welt ist einerseits eindeutig geprägt von den Erfolgen der Wissenschaften, die bekanntlich ihrerseits - sofern es die Mathematik betrifft - von den alten Griechen ererbt, vornehmlich aber eine Errungenschaft der Neuzeit sind, nämlich Ergebnis der sogenannten wissenschaftlichen Methode. Ein Ende dieser Erfolgsstory ist nicht abzusehen, täglich hören wir von weiteren sensationellen Ergebnissen und können diese als Bestätigung für die Richtigkeit des wissenschaftlichen Ansatzes nehmen. Andererseits erlebt gleichzeitig die Irrationalität einen Aufschwung, gewissermaßen parallel und synchron zu den Erfolgen der rationalen Wissenschaften. Vor etwa 100 Jahren konnte sich beispielsweise der Spiritismus größter Aufmerksamkeit erfreuen, obwohl sich die Medien damals regelmäßig als Betrüger entlarven ließen. Heutzutage müssen die Engel herhalten, um den Geschäftsbetrieb in der sogenannten Esoterik in Gang zu halten. Die Manipulationsversuche der Industrie sind lächerlich gegen die Quacksalberei der Esoterikszene, die jedoch jeglichen Angriff empört zurückweist. Die Engeltherapie, die als Stichwort über 5000 Seiten bei Google zutage fördert, ist freilich für die Wikipedia kein Thema. Dort ist sie als Stichwort gar nicht vorhanden oder schon längst wieder gelöscht. Das macht nichts, man kann trotzdem viel Geld damit verdienen. Engeltherapie ist schwer angesagt; Beispiel:
Konkret kauft man einen Satz Karten, die magische Eigenschaften haben und alles richten - man braucht sich um nichts zu kümmern. Wunderbar! Hippotherapie Demgegenüber ist Hippotherapie ganz konkret und nachprüfbar. Aber gar nicht schick. Wie kommt das? Ich behaupte: wegen der Patienten. Wir sind alle immer so normal - wir verfügen über unseren Körper, unseren Geist, meistens macht auch die Seele ganz gut mit - so kann man frei mit Pferden umgehen und das Leben genießen. Was aber, wenn das nicht so ist? Wenn der Körper nicht mitmacht oder der Geist oder die Seele? Haben davon nicht alle schrecklich Angst? Manchmal hat man das Gefühl, die Welt sei ein Tollhaus. Alle hechten dem Geld hinterher, wollen Spaß haben, fürchten den Tod und das Ende. Dem wollen wir gar nicht gern ins Auge blicken und auch nicht allen anderen Schattenseiten, die das Leben so reichlich bietet. Deshalb ist die Beschäftigung mit dem Therapeutischen Reiten so gar nicht sexy. Das hat zwar auch mit Pferden zu tun, aber der Spaß bleibt auf der Strecke. Wer möchte sich damit schon befassen? Blickt man damit nicht einem Schicksal ins Auge, dem man selbst erliegen könnte? Wäre es nicht schrecklich, wenn man so wäre, wie die, die von dieser Art Pferdearbeit profitieren? Lektionen
Das Wesentliche. Worauf kommt es im Leben an? Was macht uns glücklich? Das Geld jedenfalls nicht - soviel steht fest. Freilich ist es unerfreulich, zu wenig Geld zum Leben zu haben, aber das dürfte auf die wenigsten zutreffen. Spaß und Betäubung, wie sie alle Arten von Drogen versprechen, gehört ebenfalls nicht zum Wesentlichen - dem dürften wohl die meisten zustimmen. Wer mit Behinderten umgeht, kennt die unbändige Freude, die diese empfinden können. Auch mit schrecklichen Mißbildungen ist das Leben lebenswert. Niemand, der behindert ist, findet das Leben deswegen weniger interessant und aufregend. Viele, die sich haben umbringen wollen und es nicht geschafft haben, haben aber doch gelernt, daß das Leben ein kostbares Gut ist, das man nicht wegwerfen darf. Vor ein paar Tagen regte sich jemand fürchterlich darüber auf, daß eine Ministerin vorschreiben wolle, wie sie zu sterben habe. Sie wolle das selbst bestimmen - und fürchtete vermutlich Schmerzen, Siechtum und Abhängigkeit. Daraufhin meldete sich jemand anders zu Wort. Ihr Vater hatte schreckliche Schmerzen, war aber dennoch viel fröhlicher als alle jungen, gesunden Leute in seiner Umgebung. Demgegenüber beklagte eine alte Tante den lieben langen Tag ihr schreckliches Leben, obwohl ihr gar nichts fehlte und alle sich aufs äußerste um sie bemühten. Es war offensichtlich, was sie damit sagen wollte: Die Tante hatte nichts begriffen, ihr Vater imponierte ihr hingegen sehr. Da fielen mir wieder die zwei dichten, zu Herzen gehenden Sätze ein, über die ich ein paar Tage zuvor gestolpert war:
Hier lasse ich den Ausdruck Engel gelten, er scheint mir stimmig, drückt etwas aus, was man anders wohl nicht fassen könnte. Die Beziehung zwischen Seelen wird deutlich, auch wenn die Kommunikationsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Für diesen Mann war die Behinderung seiner Tochter kein Mangel - sie konnte ihm etwas zeigen, was niemand sonst vermochte. |
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