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Editorial zu Ausgabe 478

 
W. Popken im Fenster
Selbstportrait 08/2004
 
 
25.05.2008

Finanzkrise

"Man kann gar nicht so kompliziert denken, wie es plötzlich kommt" - dieses Zitat wird Willy Brandt zugeschrieben, obwohl sich keine Quelle finden läßt (» Sprüche berühmter Leute). Es ist aber trotzdem schön. Erdbeben in China, Finanzkrise an den Börsen, Beispiele finden sich fast täglich.

Man kann sich zunächst ja damit beruhigen, daß es nur die Großkotzigen trifft, die mit den Milliarden um sich werfen können - alles halb so schlimm, denn schließlich verschwinden die Milliarden ja nicht, sondern wandern einfach nur in andere Taschen. Der eine gewinnt die Wette, der andere verliert. So einfach ist das. Die Mathematiker nennen so etwas » Nullsummenspiel. Gewinne und Verluste gleichen einander exakt aus. Bis auf die Gebühren bei den Transaktionen, an denen aber wieder andere verdienen.

Leider haben diese überdimensionale Gewinnspiele aber Konsequenzen in globalem Ausmaß und für jedermann - man merkt es nur nicht so schnell. Es trifft sogar die Pferde im reichen Amerika.



Pferde in Not

Zwar haben nur die Schweizer » 20 Minuten AG und der » Stern die dpa-Nachricht von Antje Passenheim in leicht abgewandelter Form gebracht:

Die Wirtschaftskrise in den USA macht sich auch bei den Tierhaltern bemerkbar: Die Preise für Heu haben sich verfünffacht, Getreide ist doppelt so teuer wie vor einem Jahr. Ein Pferd dagegen wechselt für nur 200 Dollar den Besitzer. Hochkonjunktur haben nur die "Killer-Buyers".

» Wirtschaftskrise bringt Pferde in Not

Die Wirtschaftskrise hat in den USA auch unerwartete Folgen: Es gibt inzwischen zu viele Pferde - und immer weniger Menschen, die sie sich leisten können. Allein im Bundesstaat Maryland kümmern sich mittlerweile 40 Notfall-Stationen um die völlig verwahrlosten Tiere. Tendenz steigend.

» Wie die US-Finanzkrise jetzt Pferde trifft

Der Hintergrund ist aber derselbe wie bei den sich weltweit ankündigenden Hungersnöten: Verfall der Kaufkraft im Verein mit explodierenden Preisen. Seit Jahren schon munkelt man auch hierzulande, daß sich viele Menschen die Pferdehaltung gar nicht mehr leisten können. Was passiert dann aber mit den Pferden? Wie viele Gestüte haben schon angekündigt, ihren Bestand verringern zu wollen bzw. zu müssen, wie viele haben schon ganz aufgegeben?



Welt-Trends

Nachrichten sind, wir wissen es, auch gemacht. Die Anzahl der Notfall-Stationen im Bundesstaat Maryland ist schließlich nicht von heute auf morgen so stark gewachsen und kann deshalb auch nicht unmittelbar mit der aktuellen, kurzfristig zutagegetretenen Krise in direkte Verbindung gebracht werden. Der Spiegel macht mit dem Foto eines völlig verwahrlosten Hengstes auf, dessen Zustand sich ebenfalls nicht mit einem finanziellen Engpaß erklären läßt. Trotzdem ist die Tendenz nicht falsch: Wir können uns unsere Pferdeliebe möglicherweise bald nicht mehr im gewohnten Umfang leisten. Wenn Lebensmittel zu Benzin verarbeitet wird, steigen die Preise für diejenigen Lebensmittel, die noch zum menschlichen Verzehr zur Verfügung stehen, sei es in direkter Form oder über die Verfütterung an Tiere.

Angeblich sollen ja auch die Asiaten, allen voran die Inder und die Chinesen, auf den Geschmack des Fleisches gekommen sein. Ein Kilogramm fleischliche Nahrung wird mit fünf Kilogramm pflanzliche Nahrung erkauft (wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, ich will jetzt nicht recherchieren, aber die Größenordnung stimmt in etwa). Bei über 2 Milliarden Indern und Chinesen bedeutet das, daß Unmengen an pflanzliche Nahrung in Fleisch umgewandelt werden wird. Auch das wird die Preise für pflanzliche Nahrung nicht nur für Menschen in die Höhe treiben. Also dürfte sich auch bei uns der Unterhalt der Pferde erheblich verteuern. Stellen Sie sich vor, die Preise für Heu hätten sich seit dem letzten Jahr verfünffacht, Kraftfutter wäre doppelt so teuer. Das würde die Familienkasse erheblich belasten.



Luxus Pferd

Noch vor 40 Jahren waren Pferde, insbesondere Reitpferde, ein Luxus, den sich nur reiche Leute leisten konnten. Bekanntlich sind die Reichen gegenüber auch den härtesten Konjunkturschwankungen ziemlich immun. Infolgedessen dürfte der Spitzensport am allerwenigsten unter solchen Entwicklungen zu leiden haben. Wenn aber die Masse der Pferdehalter sich einschränken müßte, würde das wie in den USA sehr schnell zu katastrophalen Zuständen führen. Niemand würde einem entnervten und verarmten Besitzer das Pferd abnehmen wollen, schon gar nicht zum angemessenen Preis. Was wäre die Folge?

Möglicherweise sind die dokumentierten Fälle von Verwahrlosung genau so entstanden: Schleichende Kostensteigerung, ständiger Wertverfall, gleichzeitige Verarmung, Anhänglichkeit an die eigenen Tiere, Unfähigkeit zu konsequentem Handeln, Depressionen mit einhergehender Apathie - so entstehen unhaltbare Zustände. Die amerikanischen Probleme sind eigentlich nicht ganz neu; wenn ich mich recht entsinne, war schon vor einem oder zwei Jahren die Rede davon, daß Pferde in den USA nichts mehr wert sind und die Pferdehalter sich Ihre Tiere nicht mehr leisten können. Mein Gedächtnis läßt mich aber im Stich - ich kann nicht herausfinden, ob ich darüber schon einmal in einem Editorial geschrieben habe; aber auch das Editorial  Wasserkrise ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig.

Riesige Probleme sind also sichtbar und spürbar. Das sind die Herausforderungen unserer Zeit, für die es sich lohnen würde, zu kämpfen und zu streiten. » Benjamin Barber, amerikanischer Professor für » Zivilgesellschaft, hat dem » Kölner Stadtanzeiger ein interessantes Interview gegeben, in dem er ausdrücklich auf diese Aufgaben hinweist:

Natürlich kann der Kapitalismus das tun, was er historisch einst tat, also sowohl dem Profit als auch der Demokratie zu dienen. Aber um dies zu tun, muss er wieder auf die wirklichen menschlichen Bedürfnisse eine Antwort finden. Er muss Innovation und Unternehmertum nutzen, um Lösungen für unsere realen menschlichen Bedürfnisse herauszufinden, und weniger künstliche Bedürfnisse erfinden oder herstellen. Statt uns also Wasser in Flaschen zu verkaufen, das wir auch aus dem Baderzimmer-Wasserhahn entnehmen können, sollte der Kapitalismus versuchen, das Problem von weltweit drei Milliarden Menschen ohne Zugang zu frischem Wasser zu lösen. Eine dänische Firma hat "Lebens-Stroh" produziert, das zwei Euro kostet und mit einem System von neun Filtern es einer Familie erlaubt, klares Wasser von kontaminiertem Grundwasser oder Seen und Flüssen für ein Jahr zu klären! Es gibt folglich einen globalen Markt für alternative, nichtfossile Nutzenergie: Ein kreativer Kapitalismus, an diese Bedürfnisse adressiert, kann unsere Gesellschaft verbessern und dem Wiederaufleben des Kapitalismus helfen.

» "Ich will! Ich will! Gib mir das!"

Vielleicht erweisen sich die heute unlösbar erscheinenden Probleme als doch nicht so schwierig wie gedacht. Oder aber es kommt alles ganz anders. Einiges werden wir vermutlich noch erleben. Lassen wir uns also überraschen!

 
Chefredakteur und Herausgeber
 
 




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