| | W. Popken im Fenster Selbstportrait 08/2004 | | | | Meine Meinung zu dem Buch: von › Werner Popken
Der Mann auf dem Umschlag sieht sehr grimmig aus. Das Buch beginnt mit einem Gedicht, das zusätzlich noch als Einzelblatt beigelegt ist, vermutlich um es zu verschenken. Es hat mich nicht berührt; eine Zeile wird dreimal wiederholt, muß also wohl besonders wichtig sein:
Das finde ich doch ziemlich abartig.
Das erste Kapitel heißt DIE VERGANGENHEIT; die Vorfahren des Autors, große Namen, die Weltgeschichte schrieben, berittene Bogenschützen allesamt, wurden dem kleinen Jungen durch ein Buch lebendig, aus dem die Mutter jeden Abend vorlies.
Die kriegerische Vergangenheit setzt Energien im Autor frei, die ihn vorantreiben. Krieg und Zerstörung begeistern ihn, er beschäftigt sich mit der Geschichte, mit Archäologie, seine Sympathien gelten selbstverständlich den perfekten Killern.
Der Autor beklagt sich über Diffamierungen in der Literatur. Hunnen, Mongolen, Magyaren waren der Schrecken der Völker, und aus der Sicht dieser Völker hat die Kultur der Bogenschützen nicht viel Positives - schließlich hatten sie vor allem unter der überlegenen Kriegstaktik zu leiden.
Diese Ausführungen haben mich irritiert, weil sie andeuten, daß der Autor mit den Vernichtungsabsichten der Reitervölker sympathisiert. Nach der Lektüre des Buches war ich etwas versöhnt, weil Kassai über diese vordergründigen und brutalen Erinnerungen hinaus persönliche Erfahrungen gemacht hat, die von allgemeinerem Interesse sind.
Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß hier ein fanatischer Monomane schreibt, der auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt, der vor allen Dingen sich selbst besiegen will, der immer wieder neue Grenzen erfindet und überwindet, der selbst den Tod herausfordert: ein Reinhold Messner mit dem Bogen, wie es ihn überall und immer gegeben hat und geben wird.
Manche von diesen Leuten werden berühmt, und Lajos Kassai ist einer von ihnen. Die Frage liegt nahe, warum sich andere Leute dafür interessieren, warum sie ihn bewundern, warum sie ihn verehren.
Lajos Kassai begann nicht mit dem Bogenschießen vom Pferd, er begann mit dem Bogenschießen ohne Pferd. Zwar hatte er das Gefühl, Pferde seien etwas Natürliches und er könne ohne weiteres reiten, aber da hatte er sich getäuscht.
Das Bogenschießen an sich wird im Westen inzwischen wieder als Sport betrieben, mit olympischen Ehren sogar, im Osten, genauer gesagt in Japan, wird es als Technik zur Meditation eingesetzt. Berühmt ist das kleine Büchlein des deutschen Professors Herrigel aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Titel "Zen in der Kunst des Bogenschießens".
Dabei geht es im Gegensatz zu den westlichen Zielen nicht darum, zu treffen. Ich erinnere sehr genau, daß Herrigels Zen-Meister auf die Qualität des Schusses achtete und nicht darauf, daß der Schuß ins Schwarze traf. In Bezug auf diese Qualität war der Meister nicht zu täuschen.
Auch Kassai ist nach Japan gepilgert und hat dort Unterricht genommen. Wenn er an verschiedenen Stellen betont, daß man zwar treffen muß, aber nicht zielen darf, ahnt man, wieso er immer wieder auf die spirituellen Qualitäten des Bogenschießens abhebt. In seiner Darstellung konnte ich leichter nachvollziehen, worum es dem Zen-Meister geht. "Es" schießt, "es" trifft.
Das Schießen vom Pferd ist, wie man sich leicht vorstellen kann, um ein Vielfaches schwerer als das Schießen aus dem Stand. Kassai wird auch nicht müde, den Schwierigkeitsgrad ständig zu erhöhen. Wenn er in fünf Sekunden drei Pfeile ins Ziel bringen will, mitten aus dem vollen Galopp, kann er über das Treffen nicht nachdenken.
Wie also kommt der Treffer zustande? Offenbar werden hier Kräfte tätig, die über den normalen Verstand hinausgehen. Und genau das interessiert Kassai, je mehr er hinter diese Geheimnisse kommt. Wer schon einmal in einer brenzligen Situation war, die tödlich hätte enden können, hat vielleicht erlebt, daß hier automatisch Kräfte wirksam werden, über die wir sonst nicht verfügen. "Es" bremst, "es" reißt den Lenker herum.
Wer aber würde auf die Idee kommen, solche Situationen bewußt herbeiführen zu wollen? Kassai fesselte sich zu diesem Zweck an sein Pferd und ließ es unkontrolliert durch das Gelände rasen. Als sich bei einem Unfall herausstellte, daß der Strick riß und ihm dadurch das Leben gerettet wurde, ersetzte er diesen sofort durch ein unzerreißbares Lederband.
Kassai selbst und seine Anhänger werden das wahrscheinlich alles unglaublich toll finden; ich fand es unverantwortlich. Zwar mußte ich aus dem Buch den Eindruck gewinnen, daß Kassai ein Einzelgänger ist und deshalb eigentlich niemandem verantwortlich, aber er wird doch wohl auch eine Mutter und einen Vater haben; und wie verantwortet er sich vor Gott?
Desto erstaunter war ich, als ich auf seiner eigenen Webseite erfuhr, daß er mit 21 Jahren geheiratet hat und zwei Jahre später eine "wundervolle" Tochter bekam - persönliche Töne, mäßig gefühlvoll, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte.
Dazu kamen einige Fotos, die ihn wesentlich harmloser zeigten, als er sich in dem Buch stilisiert. Vielleicht sind also die harten Töne insgesamt nicht ganz wörtlich zu nehmen. Trotzdem wird er ein unerbittlicher Kämpfer sein, sonst hätte er nicht die unzähligen Rekorde aufstellen können.
Er ist aber wohl auch Unternehmer, Lehrer, Trainer, Darsteller, vielleicht auch ein wenig Guru. Alles das wird im Buch weitgehend ausgeblendet, so daß seine Existenz einen mythischen Anstrich bekommt.
Wenn man seine Webseite studiert, merkt man, daß er mit beiden Beinen in der Gegenwart steht und sich ausgezeichnet in der modernen Geschäftswelt zurechtfindet. Seine Zukunft sieht glänzend aus. In Deutschland hat er zwei Anhänger, die versuchen, den Sport und die Philosophie bekanntzumachen, und beide nutzen das Internet sehr geschickt.
Kassai ist ein typischer Autodidakt, der alle Erfahrungen selber machen muß, selbstverständlich auch alle Fehler, aber obwohl er das Lernen aus den Fehlern der anderen nur den Dummen zugestehen will (siehe Klappentext), ist er als Lehrer doch bemüht, seine Schüler vor den gröbsten Schnitzern zu bewahren.
So fand ich doch eine ganze Reihe von Einsichten und Erfahrungen sehr interessant und hilfreich. Er selbst scheint immer mit aller Kraft über das Ziel hinausschießen zu wollen, aber er hat doch gelernt, daß es sich auszahlt, wenn man Maß halten kann. So hat er die Mäßigung in sein System eingebaut.
Man stelle sich vor, es gelte, mit dem Bogen zu schießen. Würde man sich drei Meter vor einen Heuballen stellen und diesen als Ziel benutzen? Das käme einem doch wohl etwas zu einfach vor. Genau das aber schreibt Kassai vor.
Und wenn man dieses Ziel, was an sich nicht zu verfehlen ist, automatisch trifft, geht man einen Schritt zurück. Klappt das genausogut, geht man wieder einen Schritt zurück, und sobald man auf Probleme stößt, geht man wieder einen Schritt vor.
Und genau so arbeitet er mit den Pferden: immer im sicheren Bereich bleiben, niemals negative Erfahrungen zulassen, weder für Pferd noch Mensch. Denn es geht nicht darum, daß der Mensch etwas erzwingt, was er sich vorstellt, sondern darum, daß der Bogen und das Pferd den Menschen lehren.
Wer hätte das gedacht? Kassai hat das auf dem schweren Weg gelernt. Eines der letzten Kapitel des Buches lautet DER UNFALL, und darin findet sich die Selbsterkenntnis (Seite 149):
| Ich fand heraus, daß ich viele Fehler gemacht hatte. Das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, stand in keinem Verhältnis zu meinen Kraftreserven. Um das zu kompensieren, hatte ich fanatischen Willen eingesetzt, der die Alarmglocken meiner inneren Sinne zum Schweigen brachte. (Fanatismus ist immer eine exzessive Kompensation eines Mangels.) | | |
Johannes Fischnaller hat mir nicht nur das Buch geschickt, sondern auch zwei Videos auf CD, etwa 8 und 14 Minuten lang, um die 150 und 200 MB groß, zu groß für einen Download. Man kann sich die Videos bei ihm auf CD bestellen (und VHS-Videos, Mail an [email protected]).
Hier kann man die Trommeln hören und die Reiter sehen. Die Stelle, wo Kassai ohne Sattel in vollem Galopp eine Handtrommel schlägt und dann sein Pferd dazu bringt, sich im Bruchteil einer Sekunde hinzulegen, habe ich mir ein halbes Dutzend mal angeschaut, aber trotzdem nicht herausfinden können, wie er das macht.
Wieso aber überhaupt getrommelt wird, wurde mir aus den Videos nicht klar. Das Buch bringt Aufklärung im Kapitel KONTAKTE. Kassai hatte ja alles selber gefunden und wurde nun müde. Er bringt einen herrlichen Vergleich (Seite 123):
| Meine Experimente bis hierhin konnten verglichen werden mit jemandem, der versucht, den David von Michelangelo zu verstehen, indem er aus einer fixierten Position heraus mit konstanter Geschwindigkeit Tennisbälle gegen die Skulptur schlägt und versucht, den Umriß dieses Meisterwerks zu rekonstruieren, indem er die Winkel und Geschwindigkeiten der abprallenden Bälle untersucht. | | |
Und nun kommt zum wiederholten Male eine großartige Eigenschaft des Autors zum Zuge: Kassai beginnt ganz von vorne. Er fragt sich, wie es wohl in den 25.000 Jahren, in denen Bogenschießen praktiziert worden ist, ausgesehen hat, ob jeder Schütze wieder erneut auf eigene Faust dieselben Erfahrungen machen mußte.
Das bringt ihn zum Schamanismus, und da hat er wieder einmal Gelegenheit, seinen köstlichen Humor unter Beweis zu stellen (Seite 123):
| Um in dieser Richtung voranzukommen, dachte ich, ich müsse einen Schamanen finden, der über die Praktiken der archaischen Urmenschen Bescheid wisse und der mich in die Mysterien der Trance einführen könne. Das Problem ist nur, daß, wenn man im heutigen Ungarn auf gut Glück einen Stein wirft, man auf jeden Fall einen Naturheiler in mystischen Roben oder einen Oberschamanen am Kopf trifft. Natürlich schwimmen ein paar gute, nüchterne Leute gegen die alles überschwemmende Flut der Dilettanten an. | | |
Der Schamanismus mit seinen Trommeln gehört ebenso wie die große Jurte und das Kriegsgeschrei zum System. Es geht eben nicht nur um großen Sport (obwohl Kassai vermutet, daß in einigen Jahrzehnten das Bogenschießen zu Pferd olympische Disziplin wird), sondern auch um die Erforschung und Inszenierung der Vergangenheit.
An verschiedenen Stellen klingt an, daß Kassai karmische Lasten abträgt. Hier lebt sozusagen ein großer Krieger der Vergangenheit seine unerledigten Probleme aus. Hinzu kommt: wenn schon die Gegenwart nicht so berauschend ist, so kann man sich doch an der Vergangenheit hochziehen.
So wundert es nicht, daß die meisten Anhänger dieses Sports aus Ungarn und umgrenzenden Ländern kommen. Dort fehlt es auch nicht an der entsprechenden Weite. Kassai hält die im Westen übliche Form der Pferdehaltung für katastrophal und die so gehaltenen und dadurch verdorbenen Pferde für schlecht. Zitat aus einem Interview: "Die heute verbreitete Stallhaltung ist ja ein ziemlich tödliches System für die Pferde. Das Pferd ist für Steppen, für freie Räume, für das grüne Gras geschaffen."
Der deutsche Steppenreiter Christian Schrade sagte es mir einmal so: "Wir fangen da an, wo die anderen aufhören". Lajos Kassai hält seine Sportart für die interessanteste Pferdesportart und für diejenige, die sich in diesem Jahrhundert am schnellsten entwickelt.
Man sieht, den Anhängern des Bogenschießens vom Pferd mangelt es nicht an Selbstbewußtsein. Es geht aber nicht nur um das Schießen, nicht nur um das Pferd. Das macht die Sache besonders interessant, denn bei den anderen Sportarten geht es nur um das Gewinnen. Die spirituelle Dimension fehlt vollständig.
Das System des Lajos Kassai ist, wie könnte es bei einem Autodidakten anders sein, vorläufig und unvollständig. Das mache ich ihm aber nicht zum Vorwurf. Ich finde es großartig, daß er überhaupt über den Tellerrand hinausblickt und wesentliche Daseinsfragen formuliert, aber nicht nur das, durch sein Beispiel seinen Anhängern und der Welt zeigt, daß es auf mehr ankommt als nur die Bewältigung der unmittelbaren Lebensfragen.
Deshalb möchte ich dieses Buch allen denen empfehlen, die in ihrem Leben und besonders im Umgang mit Ihrem Pferd einen Mangel empfinden. Nicht daß ich glaube, sie würden dem Autor folgen sollen oder unmittelbare Antworten finden; sie werden aber auf jeden Fall ermutigt, eigene Fragen zu stellen und vielleicht durch das Beispiel des Autors angeregt, selber mehr Risiken zu wagen, als das gemeinhin üblich ist. Dieser Mann gibt sich nicht mit Halbheiten zufrieden. Insofern kann er als Vorbild dienen.
Ein Zitat zum Schluß, das nicht nur Pferdeleuten ins Stammbuch geschrieben werden sollte (Seite 117):
| Nichts in der Welt ist sicherer als der Tod, wenn man erst einmal gestorben ist, besteht absolut keine Gefahr mehr für einen. Je mehr wir nach Sicherheit streben, um so mehr sind wir schon tot, und je mehr wir nach Herausforderungen streben, um so lebendiger werden wir. | | |
erschienen 08.12.02
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