Auch bei anderen Dingen, die sie nicht mochte, musste man sich stets etwas einfallen lassen. So war es nicht möglich, einfach Wurmpaste ins Maul zu spritzen, genauso wenig Medikamente oder ähnliches.
Jedesmal gab es einen mittleren Anfall genau zur richtigen Zeit, nämlich wenn die Paste gerade auf dem "Flug ins Maul", soll hier also heißen "nicht mehr ins Maul" war.
Und wenn man die Paste ins Futter mischte und 5 Minuten herzhaft umrührte, blieb immer etwas im Trog: die Wurmpaste.
Die Überlistung war dann doch irgendwann gefunden: Man nehme ihre Zunge, ziehe sie schön weit heraus und nimmt sie dann im Maul mit der anderen Hand. Niemals wollte sie ihre eigene Zunge abbeißen oder abreißen, also kamen Wurmpaste bzw. Medikament doch noch da hin, wo es hin sollte.
Übrigens war das mit der Zunge in der einen und einem Ohr in der anderen Hand auch beim Beschlag der einzig taugliche Ersatz für die Nasenbremse, die ja grundsätzlich tabu war.
Ihre "telepatischen Fähigkeiten" hat sie auch nie verloren: Sie ahnte die Spritze mit z.B. der Tetanusimpfung schon vor meiner Ankunft im Stall und entsprechend führte sie sich auf.
Der Hals war dann ein steinhartes Muskelpaket, in den ohne Gewalt keine Spritze reingeht. Hier half nur, in einem unbedachten Moment eine große Hautfalte zu ergattern, wenn der Kopf auf die richtig Seite gebogen war, und dann in den entspannten Muskel zu stechen.
Ja, Bella hat mir viel Geld für Impfungen durch den Tierarzt erspart, ich musste nämlich gleich am Anfang in der Lichtenau das Spritzen lernen, weil sie den Tierarzt wahrscheinlich umgebracht hätte.
Ihren Horror vor Tierärzten hat sie nie abgelegt, da musste ich immer dabei sein, sonst gab es Streß. Das gleiche galt natürlich auch für den Schmied.
So kam unser zweiter Sommer, unsere Touren wurden häufiger, weiter und durften schneller geritten werden. Ich konnte mir statt des normalen Vielseitigkeitssattels einen guten, pferdeschonenden Militärsattel aus dem 1. Weltkrieg leihen - das ist immer noch mein liebster Reisesattel, nachdem ich irgendwann einen Eigenen aufgetrieben habe.
Alternativ zu den Touren machte ich gerne "Hardcore-Geländeerkundung" - sämtliche Jäger und Waldbesitzer mögen mir bitte meine Jugendsünden verzeihen.
Das sah prinzipiell so aus: Solange der Mensch noch irgendwie durchpasst, kommt ein Pferd in Bella-Grösse auch durch. Das heißt, ich ging voraus, sie steckte ihren Kopf hinten an mein Gesäß und krabbelte irgendwie nach mir durchs Dickicht.
Das selbe Prinzip funktionierte auch auf 50cm breiten Holzbrücken, die als Fußweg gedacht, aber stabil genug gebaut sind. Bella bekam immer mehr Vertrauen und ging mit mir grundsätzlich überall hin, spätestens wenn ich vorausging.
Wenn es besonders unübersichtlich war - beispielsweise durch einen Strauch und gleich ums Eck, weil es geradeaus den Abhang runtergeht - und sie nicht herausbekam, wie sie ihre Füße sortieren muß, stieg ich ab, nahm nacheinander ihre Vorderbeine und zeigte ihr schrittweise den Weg durchs Dickicht. Mit den Hinterbeinen hatte sie dann kein Problem mehr.
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